Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
seinem Halbbruder. Das bedeutete, er war irgendwo von irgend jemandem gesehen worden. Ob er in dieser Nacht ein sicheres Unterkommen gefunden hatte? Ein Teil von mir wollte auf der Stelle nach Bocksburg zurückkehren und ihn suchen. Als könnte ich ihn beschützen.
Komm zu mir.
Veritas’ Ruf tönte durch mein Bewußtsein, als hätte er gespürt, daß ich abtrünnig zu werden drohte. Mein erster Weg führte zu ihm, zu Veritas – ich versicherte es mir wieder und wieder und fiel schließlich in einen unruhigen Dämmerschlaf. Ich träumte, aber es waren blasse Träume, kaum von der Gabe berührt, flüchtig und unstet wie vom Herbstwind aufgewirbelte Blätter. Mein Gehirn schien Gedanken an jeden Menschen, den ich vermißte, aufzufangen und zu einem Bilderreigen zu ordnen. Ich träumte von Chade, der mit Lacey und Philia den Tee nahm. Er trug ein altmodisch geschnittenes Gewand aus sternenübersäter roter Seide und zauberte mit seinem lächelnden Charme Heiterkeit selbst auf Philias Züge, die mir unerklärlich müde und verhärmt erschien. Anschließend träumte ich von Molly, die aus der Tür einer Hütte zu Burrich hinausschaute, der sich gegen den scharfen Wind den Umhang vor der Brust zusammenhielt und ihr sagte, sie solle sich keine Sorgen machen, er käme bald wieder und alle schwere Arbeit könne warten bis zu seiner Rückkehr, sie solle drinnen bleiben und gut auf sich achten. Sogar von Zelerita träumte ich, daß sie in den sagenhaften Eishöhlen des Hungrigen Gletschers in Bearns Zuflucht gesucht hatte und sich dort mit dem Rest ihrer Armee und einer großen Menge durch die Roten Korsaren heimatlos gewordenen Volks versteckte. Sie pflegte Fideia, die mit einer schwärenden Pfeilwunde im Leib darniederlag und von einem hitzigen Fieber verzehrt wurde. Zuletzt träumte ich von dem Narren, der vor einem Feuer saß und in die Flammen starrte. Seine Miene verriet tiefe Hoffnungslosigkeit, und mir kam es vor, als wäre ich in den Flammen und blickte bis auf den Grund seiner Augen. Irgendwo in der Nähe und doch fern weinte untröstlich Kettricken. Die Bilder zerstoben, und dann träumte ich von Wölfen, die einen Bock hetzten, aber es waren fremde Wölfe, und falls mein Wolf sich unter ihnen befand, gehörte er zu ihnen und nicht länger zu mir.
Ich erwachte mit schmerzendem Kopf, und auch der Rücken tat mir weh, von einem Stein, auf dem ich gelegen hatte. Der Tag war noch kaum mehr als ein heller Schimmer am Horizont, trotzdem erhob ich mich, um einen Brunnen zu suchen, mich zu waschen und soviel zu trinken, wie mein Magen zu fassen vermochte. Burrich hatte mir einmal gesagt, viel zu trinken wäre ein gutes Mittel gegen Hunger. Die Richtigkeit dieser Theorie würde ich heute überprüfen können. Ich schärfte mein Messer, dachte an Rasieren und entschied mich dagegen. Edel suchte nach mir, deshalb war es klüger, mir einen Bart stehen zu lassen, der die Narbe an meiner Wange verdeckte. Verdrossen rieb ich über die kratzigen Stoppeln, die mich jetzt schon ärgerten. Ich kehrte zu dem Platz zurück, wo die anderen noch schliefen.
Sie begannen gerade erst sich zu regen, als ein dicklicher kleiner Mann erschien und mit schriller Stimme verkündete, daß er jemanden suchte, der ihm half, seine Schafe in einen anderen Pferch zu treiben. Es war Arbeit höchstens für den Vormittag, wenn überhaupt, und die meisten meiner Genossen schüttelten den Kopf; sie wollten lieber hier warten, wo Aussicht darauf bestand, einen Dienst bis zum Blauen See zu ergattern. Er beschwor uns fast, ihm brenne die Zeit auf den Nägeln, weil er doch die Herde durch die Stadt treiben müsse und zwar, bevor der morgendliche Verkehr einsetzte. Zu guter Letzt versprach er zu dem Lohn noch ein Frühstück, und ich glaube, das bewog mich, ihm zu folgen, nachdem wir mit Handschlag die Abmachung besiegelt hatten. Sein Name war Dämon, und den ganzen Weg lang hörte er nicht auf zu reden, gestikulierte mit beiden Händen und erklärte mir haarklein, wie er seine Tiere behandelt sehen wollte. Es waren Zibben, allerbeste Zucht, und keinesfalls durften sie sich verletzen oder auch nur aufregen. Ruhig, bedächtig, das war die beste Art, Schafe zu treiben. Ich nickte wortlos zu seinem Redeschwall und ließ mich von ihm zu einem Pferch fast am anderen Ende der Schlachthauszeile führen. Dort wurde mir klar, weshalb er es so eilig hatte, seine Schafe wegzubringen. Das Gatter nebenan mußte dem glücklosen Hencil gehören. Ein paar Tiere hielten sich
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