Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
kaum noch die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Ich antwortete nicht. Er versuchte es erneut. »Wasser und der Schlüssel zu deinen Ketten. Ein Pferd, such dir eins aus. Ich werde dich nicht hindern. Nur nimm deinen Fluch von mir.«
Er sah so jung und erbarmungswürdig aus.
»Bitte.«
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Es war Gift«, erklärte ich ihm. »Ich kann dir nicht helfen.«
Er starrte mich an, verständnislos, ungläubig. »Dann muß ich sterben? Heute?« Es war ein tonloses Flüstern. Seine dunklen Augen krallten sich in meine. Ich nickte.
»Verdammt sollst du sein!« Er schleuderte mir die Worte entgegen, in einem letzten Aufbäumen seiner schwindenden Lebenskraft. »Dann sollst du ebenfalls sterben. Hier, wo du uns alle hast krepieren lassen.« Er warf den Schlüssel in hohem Bogen weg, dann lief er torkelnd auf die Pferde zu, brüllte heiser und schwenkte die Arme.
Die Tiere hatten, ohne angebunden zu sein, die ganze Nacht bei den Menschen ausgeharrt und geduldig darauf gewartet, daß man sie fütterte und tränkte. Es waren gut ausgebildete Militärpferde. Aber der Geruch nach Krankheit und Tod und das unverständliche Benehmen dieses Jungen waren zuviel des Guten. Als er plötzlich mit einem gellenden Aufschrei mitten zwischen ihnen hinstürzte, warf ein grauer Wallach den Kopf in die Höhe und schnaubte. Ich übermittelte ihm beruhigende Gedanken, doch er hatte seine eigenen Vorstellungen. Er wich tänzelnd zurück, warf sich auf der Hinterhand herum und galoppierte davon. Die anderen Pferde folgten ihm. Ihr Hufschlag tönte nicht wie Donner über die Ebene. Für mich hörte es sich eher an wie das schwächer werdende Prasseln eines abziehenden Regengusses, der jede Hoffnung auf Leben mit sich nimmt.
Der Junge rührte sich nicht wieder, doch es dauerte eine Weile, bis er tot war. Ich mußte bei meiner Suche nach dem Schlüssel sein leises Weinen ertragen. Lieber hätte ich erst einen vollen Wasserschlauch gesucht, um meinen brennenden Durst zu stillen, doch ich fürchtete, wenn ich der Stelle, wo der Schlüssel hingefallen sein mußte und die aussah wie überall, auch nur kurz den Rücken kehrte, würde ich sie niemals wiederfinden. Also kroch ich auf allen vieren über den sandigen Boden und spähte mit dem einen guten Auge nach dem Gegenstand meines Heils. Auch nachdem das Weinen des Jungen zu schwach geworden war, um bis zu mir zu dringen, selbst nachdem er tot war, glaubte ich es in meinem Kopf zu hören. Manchmal verfolgt es mich noch heute. Sinnloses Ende eines jungen Lebens, ein weiteres Opfer von Edels Rachefeldzug gegen mich. Oder meines Rachefeldzugs gegen ihn.
Zu guter Letzt fand ich den Schlüssel, gerade als ich dachte, die untergehende Sonne würde ihn auf immer meinen Blicken entziehen. Er war grob und sperrig und ließ sich nur mühsam drehen, doch er öffnete die Schlösser. Mit zusammengebissenen Zähnen nahm ich die Schellen ab, die sich tief in mein geschwollenes Fleisch gegraben hatten. Mein linker Fuß war kalt und nahezu gefühllos. Die enge Fessel hatte die Blutzufuhr unterbunden. Nach ein paar Minuten kehrte schmerzlich das Leben in ihn zurück. Ich achtete nicht besonders darauf, viel wichtiger war es, endlich Wasser zu finden.
Die meisten der Soldaten hatten während des langsamen Sterbens ihre Wasserschläuche bis zum letzten Tropfen geleert, so wie mein Gift ihnen den letzten Tropfen Flüssigkeit aus den Därmen gepreßt hatte. Der Behälter, den der Junge mir gezeigt hatte, enthielt nur noch einen kleinen Rest. Ich trank sehr langsam und behielt das Wasser lange im Mund, bevor ich schluckte. In Kujons Satteltasche entdeckte ich eine Flasche Branntwein. Ich gestattete mir einen bescheidenen Mund voll, dann korkte ich sie wieder zu und legte sie zur Seite. Es war nicht viel mehr als ein Tagesmarsch zurück zum Wasserloch. Ich konnte es schaffen. Ich mußte es schaffen.
Die Toten gaben mir, was ich brauchte. Ich durchsuchte ihre Satteltaschen und die Bündel an den zu einem Haufen zusammengetragenen Sätteln. Als ich fertig war, trug ich ein blaues Hemd, das mir in den Schultern paßte, wenn auch der Saum bis zu den Knien hinunterhing. Ich hatte Trockenfleisch und Korn, Linsen und Erbsen als Proviant, mein altes Schwert, das mir am besten in der Hand lag, Kujons Messer, einen Spiegel, einen kleinen Topf, einen Becher und einen Löffel. Die Waffen ausgenommen, legte ich das alles, dazu Kleider zum Wechseln, die mir zu groß waren, aber besser als nichts, auf
Weitere Kostenlose Bücher