Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
mich, das Erlebte zu verarbeiten. Merle nahm die Decken, die ich aus meiner Zelle mitgebracht hatte, und schüttelte sie aus. Eine gab sie mir, die andere hängte sie sich um die Schultern. Die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, das Kinn auf den Knien, saß sie am Seitenbrett der Pritsche und hielt den Blick auf die rätselhaften Glyphen der Radfurchen, Huf- und Stiefelabdrücke gerichtet, die unter dem Wagen in endloser Folge zum Vorschein kamen. Ich spürte, daß sie in Ruhe gelassen werden wollte. In einer Art Trance beobachtete ich, wie der orangene Schein, der Mondesauge gewesen war, allmählich in der Ferne verschwand, bis nach einer Weile mein Verstand wieder die Arbeit aufnahm.
»Krähe?« rief ich über die Schulter. »Wohin fahren wir?«
»Weg von Mondesauge.« Ihre Stimme verriet Erschöpfung.
Merle regte sich und schaute mich an. »Wir dachten, du wüßtest es.«
»Wo haben die Schmuggler ihr Versteck?«
Merles Schulterzucken war im Dunkeln mehr zu fühlen als zu sehen. »Sie wollten es uns nicht verraten. Sie sagten, falls wir dich befreien wollten, müßten wir uns von ihnen trennen. Sie schienen zu glauben, Burl würde Jagd auf dich machen, auch wenn Mondesauge in Schutt und Asche läge.«
Ich nickte. »Das stimmt. Er wird mir für alles die Schuld geben. Und er wird verbreiten lassen, die Brandstifter wären Soldaten aus dem Bergreich gewesen, die den Auftrag hatten, mich zu befreien.« Ich setzte mich aufrecht hin und rückte von Merle ab. »Wenn man uns ergreift, wird man euch beide töten.«
»Wir hatten nicht vor, uns fangen zu lassen«, erwiderte Krähe.
»Das wird man auch nicht«, versicherte ich ihr. »Nicht, wenn wir überlegt vorgehen. Halt an.«
Ich warf Merle meine Decke zu, sprang vom Wagen und ging nach vorn zu den Pferden. Nachtauge folgte mir neugierig. »Was hast du vor?« wollte Krähe wissen, als ich den Zuggurt löste, die Aufhaltekette aushakte und die Deichsel auf den Boden fallen ließ.
»Das Sielengeschirr ändern, damit man die Pferde reiten kann. Kannst du ohne Sattel reiten?« Ich benutzte das Messer der Soldatin, um die Zügel zu kürzen. Krähe mußte ohne Sattel reiten, ob sie es konnte oder nicht. Wir hatten keine Sättel.
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, murrte sie, als sie vom Bock herunterstieg. »Aber wir werden nicht sehr schnell vorankommen, zu zweit auf diesen Kleppern.«
»Es wird schon gehen. Ihr braucht die Pferde nicht zu hetzen. Reitet langsam, aber stetig.«
Merle stand auf der Ladefläche des Wagens und schaute auf mich hinunter. Auch ohne hinzusehen, wußte ich, daß sich Unglauben auf ihrem Gesicht abzeichnete. »Wir brauchen die Pferde nicht zu hetzen? Soll das heißen, du verläßt uns hier? Nachdem wir zurückgekommen sind, um dich zu befreien?«
So hatte ich die Sache nicht gesehen. »Genaugenommen seid ihr es, die mich verlassen«, erklärte ich. »Jhaampe ist der einzige größere Ort hinter Mondesauge. Aber reitet nicht geradewegs dorthin, denn damit rechnen sie. Am besten haltet ihr euch eine Zeitlang in irgendeinem kleinen Dorf verborgen. Die Chyurda sind ein gastfreundliches Volk. Hört ihr keine Gerüchte über fremde Soldaten, reitet weiter nach Jhaampe. Doch vorerst solltet ihr ein gutes Stück Wegs hinter euch bringen, bevor ihr haltmacht, um Essen oder Unterkunft zu erbitten.«
»Was wirst du tun?« fragte Merle in einem Ton, der jedes Wort mit Eiszapfen versah.
»Nachtauge und ich gehen unseren eigenen Weg. Wie wir es längst hätten tun sollen. In Gesellschaft reisen hält uns nur auf.«
»Ich bin zurückgekommen, um dich zu befreien«, sagte Merle fassungslos. »Trotz allem, was mir zugestoßen ist. Trotz meiner Hand und allem anderen...«
»Er lockt sie von unserer Spur weg«, warf Krähe plötzlich ein. Sie hatte mich verstanden.
»Soll ich dir beim Aufsteigen helfen?« fragte ich sie ruhig.
»Wir brauchen keine Hilfe von dir!« Merle schüttelte aufgebracht den Kopf. »Wenn ich daran denke, was ich alles auf mich genommen habe, um dir zu folgen. Und was wir gewagt haben, um dich zu befreien... Du wärst in der Zelle dahinten verbrannt ohne mich!«
»Ich weiß.« Die Zeit reichte nicht für ausführliche Erklärungen. »Lebt wohl.« Damit wandte ich mich ab und schlug den Weg in den Wald ein. Nachtauge lief neben mir her. Bäume schoben sich zwischen uns und die Straße und entzogen Wagen, Pferde und die beiden Frauen unseren Blicken.
Krähe hatte meinen Plan durchschaut. Sobald Burl die Brände
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