Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Morgen.
Kapitel 32
Kapelan
Der Alten Macht haftet ein schlechter Ruf an. In manchen Gegenden betrachtet man sie als Abartigkeit und erzählt sich Greuelmärchen von solchen, die Verkehr mit Tieren haben, um dieser Magie teilhaftig zu werden, oder sich mit dem Blut von Kindern die Fähigkeit erkaufen, die Sprache der Vögel und vierfüßigen Kreaturen zu verstehen. Manche Geschichtenerzähler sprechen gar von einem Handel mit den alten Dämonen der Erde.
Ich für meinen Teil bin der Ansicht, bei der Alten Macht handelt es sich um eine vollkommen natürliche Magie. Diese Macht ist es, die einen Vogelschwarm im Flug umschwenken läßt wie auf Kommando, oder die bewirkt, daß eine Schule von Salmlingen in einem schnellfließenden Gewässer dicht zusammen an einem Platz verharrt. Es ist auch die Alte Macht, die eine Mutter an das Bettchen ihres Kindes eilen läßt, das soeben erwachen will. Ich glaube, sie ist das Herz aller wortlosen Verständigung und daß alle Menschen eine gewisse Veranlagung dafür besitzen, ob bewußt oder unbewußt.
Am nächsten Tag erreichten wir erneut die Gabenstraße. Als wir an dem Steinpfeiler vorbeikamen, fühlte ich mich davon angezogen. »Veritas ist für mich vielleicht nur einen Schritt entfernt«, sagte ich verlangend.
Krähe schnaufte. »Oder dein Tod. Hast du vollkommen den Verstand verloren? Glaubst du, ein einzelner Gabenkundiger könnte es mit einer ausgebildeten Kordiale aufnehmen?«
»Veritas hat es gekonnt«, erwiderte ich und dachte an Burg Fierant, wo er mich gerettet hatte. Den Rest des Vormittags ging sie schweigend und in Nachdenken versunken neben mir her.
Ich meinerseits unternahm ebenfalls keinen Versuch, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, denn ich hatte meine eigene Bürde zu tragen. Das vage Bewußtsein, etwas verloren zu haben, peinigte mich – ähnlich dem Gefühl, wenn man weiß, man hat etwas vergessen, kann sich aber nicht erinnern, was. Ich hatte etwas zurückgelassen. Oder ich hatte etwas nicht getan, etwas Wichtiges, das ich hatte erledigen wollen. Am späten Nachmittag fiel es mir wieder ein.
Veritas.
Solange ich ihn in mir getragen hatte, war ich mir selten seiner Anwesenheit gewiß gewesen. Ein verborgenes Samenkorn, das darauf wartete, sich zu entfalten. In diesem Bild hatte ich von ihm gedacht. Die vielen Male, die ich in mir nach ihm gesucht und ihn nicht gefunden hatte, waren plötzlich bedeutungslos. Dies war kein Zweifel, keine Ungewißheit. Dies war eine wachsende Überzeugung. Seit über einem Jahr hatte Veritas mich begleitet. Jetzt war er fort.
Hieß das, er war tot? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Diese ungeheure Woge der Gabe, die ich gespürt hatte; das konnte er gewesen sein. Oder war etwas geschehen, das ihn gezwungen hatte, sich in sich selbst zu verkapseln? Vielleicht hatte seine Abwesenheit auch nicht viel zu bedeuten. Es kam einem Wunder gleich, daß er überhaupt so lange bei mir geblieben war. Mehrmals stand ich dicht davor, zu Krähe oder Kettricken darüber zu sprechen, aber dann tat ich es doch nicht. Was sollte ich ihnen auch sagen: Vorher wußte ich nie genau, ob Veritas bei mir war, und nun kann ich ihn nicht mehr fühlen? Nachts, am Feuer, betrachtete ich Kettrickens verhärmtes Gesicht und fragte mich, welchen Nutzen es hatte, ihren Kummer noch zu vergrößern. Also behielt ich meine unguten Ahnungen für mich und schwieg.
Länger währende Strapazen führen zu Monotonie und zu Tagen, die rückblickend zu einem verschmelzen. Das Wetter war geprägt von Regenschauern und böigem Wind. Unsere Vorräte waren bedrohlich zusammengeschrumpft, und das Grün, das wir unterwegs pflückten, sowie das Wild, das Nachtauge und ich je nach Jagdglück beisteuerten, wurden für uns überlebenswichtig. Ich ging neben der Straße her; doch war ich mir ständig ihrer murmelnden Gabenstimme bewußt, als bewegte ich mich am Ufer eines leise rauschenden Flusses. Der Narr wurde reichlich mit Elfenrindentee traktiert und legte bald die grenzenlose Energie an den Tag, die Elfenrinde verleiht, leider verbunden mit einer düsteren Weltuntergangsstimmung – der charakteristischen, allerdings unerwünschten Nebenwirkung der Droge. Bei dem Narren manifestierte sich das eine in unaufhörlichem Herumgehampel, das andere in einer bitteren Schärfe in seinen Wortspielen und Priameln. Gar zu oft spaßte er über die Vergeblichkeit unserer Suche, und auf jede aufmunternde Bemerkung konterte er mit geschliffenem Zynismus. Er führte
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