Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
sich auf wie ein freches, ungezogenes Gör, hörte auf keine Zurechtweisung, auch nicht, wenn sie von Kettricken kam, und er vergaß, daß Schweigen eine Tugend sein kann. Egal ob man ihn anbrüllte oder ihm gut zuredete, er war nicht zu bändigen. Er brachte mich soweit, daß ich davon träumte, ihn zu erwürgen, und ich bin sicher, die anderen empfanden ähnliche Gelüste.
Zum Glück besserte sich das Wetter. Die Regenschauer nahmen an Stärke und Häufigkeit ab; an den Laubbäumen längs der Straße entrollten sich die Blätter, und die Hügel ringsum kleideten sich fast über Nacht in frisches Grün. Die Jeppas kamen bei dem guten Futter rasch wieder zu Kräften, und es gab reichlich Niederwild. Der Mangel an Schlaf forderte seinen Tribut von mir, aber den Wolf allein jagen zu lassen wäre auch keine Lösung gewesen. Davon abgesehen, fürchtete ich mich zu schlafen. Schlimmer, Krähe fürchtete sich, mich schlafen zu lassen.
Aus eigener Macht hatte sie sich zur Hüterin meines Verstandes ernannt. Auch wenn es mich wurmte, ich war nicht so dumm, mich gegen sie aufzulehnen. Sowohl Kettricken als auch Merle beugten sich vor Krähes überlegenen Wissen in bezug auf die Gabe. Mir war verboten, ohne Begleitung oder nur in Gesellschaft des Narren das Lager zu verlassen. Gingen der Wolf und ich abends auf die Jagd, kam Kettricken mit. Die Wache teilte ich mir mit Merle, die den Auftrag hatte, mich zu beschäftigen, indem sie mich anhielt, Gesänge und Schwanke aus ihrem Repertoire auswendig zu lernen. Meine wenigen Stunden Schlaf wurden von Krähe bewacht, die stets einen Becher mit starkem Elfenrindentee in Reichweite hatte, den sie mir, sollte es nötig sein, in den Hals schütten konnte, um meine Gabe zu lähmen. All das war kaum zum Aushalten; doch besonders unerträglich war es tagsüber, wenn Krähe und ich zusammen marschierten. Ich durfte weder von Veritas sprechen noch von der Kordiale oder sonst ein Thema anschneiden, das irgendwie damit zusammenhing. Um die Versuchung gering zu halten, lösten wir Spielprobleme, sammelten Kräuter am Wegrand, oder ich erzählte ihr, was ich von Merle gelernt hatte. Sobald sie auch nur den Verdacht hegte, ich wäre mit den Gedanken nicht ganz bei ihr, traf mich aus heiterem Himmel eine wohlgezielte Ermahnung mit dem Wanderstock. Die wenigen Male, die ich versuchte, das Gespräch auf ihre Vergangenheit zu bringen, schob sie dem einen Riegel vor, indem sie kurzerhand erklärte, dadurch könnten wir auf verbotenes Terrain geraten.
Kaum etwas ist schwieriger, als zu versuchen, nicht an etwas Bestimmtes zu denken. Inmitten all der ausgeklügelten Ablenkungen für meinen Verstand erinnerte der Duft einer Blume am Wegesrand mich an Molly, und von ihr bis zu Veritas, der mich von ihr weggerufen hatte, war es nur ein winziger Gedankensprung. Oder ein albernes Verslein des Narren rief mir ins Gedächtnis, wieviel freundliche Geduld König Listenreich für ihn und seine Spaße aufgebracht hatte, und ich mußte daran denken, wie mein König gestorben war und durch wessen Hand. Kettrickens Schweigen empfand ich als besonders zermürbend. Sie durfte nicht mehr mit mir über ihre Angst um Veritas reden. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne zu fühlen, wie sehr es sie verlangte, ihn zu finden, und dann machte ich mir Vorwürfe, weil ich an ihn gedacht hatte. So verging ein Tag nach dem anderen.
Die Landschaft um uns herum veränderte sich allmählich. Wir stiegen tiefer und tiefer hinab in ein schmales, gewundenes Tal. Eine Zeitlang wanderten wir an einem milchiggrauen Fluß entlang. An mehreren Stellen hatte sein Steigen und Fallen von der Straße kaum mehr als einen schmalen Saum übriggelassen. Schließlich gelangten wir zu einer schier unglaublichen Brücke. Als wir sie aus der Ferne zum ersten Mal zu Gesicht bekamen, gemahnte das spinnennetzartige Filigran der Konstruktion mich an ein blankes Skelett, und ich fürchtete, wir würden nur noch ein hoch aufragendes Gerüst aus gesplitterten Holzpfosten und -balken vorfinden. Statt dessen betraten wir ein Wunderwerk, das sich in einem unnötig hohen Bogen über das Flußtal schwang, wie aus reiner Freude an der eigenen Kühnheit. Die Straße, die über die Brücke führte, war glänzend schwarz, das Gewebe der Verstrebungen ein pulveriges Grau. Ich konnte nicht herausfinden, aus welchem Material sie geschaffen war, aus Metall oder fremdartigem Gestein, denn es gemahnte mehr an einen gesponnenen Faden als an gehämmertes Metall oder
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