Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
mir hatten die Gerätschaften seiner kartographischen Arbeit gelegen und all die Paraphernalien eines Mannes, der darauf wartete, den Thron zu besteigen. Damals waren meine Gedanken zu ihm gewandert. Ich hatte mir gewünscht, er käme heim, um sein Königreich zu schützen, und hatte einfach zu ihm hinausgegriffen. Spontan, ohne bewußte Vorbereitung oder Absicht. Ich versuchte, mich wieder in eine solche Stimmung zu versetzen. Hier fehlten Veritas’ Besitztümer, aber wenn ich die Augen schloß, konnte ich meinen Prinzen vor mir sehen. Ich holte tief Atem und bemühte mich vor meinem inneren Auge sein Bild entstehen zu lassen.
Veritas war breiter gebaut als ich, aber nicht ganz so groß. Wir hatten beide die dunklen Augen und das schwarze Haar der Familie Weitseher, aber seine Augen lagen tiefer als meine, sein Haar und Bart zeigten bereits erste Spuren von Grau. Aus meiner Kinderzeit hatte ich ihn als imponierende Erscheinung in Erinnerung, ein untersetzter Mann, dem das Schwert ebensogut in der Hand lag wie die Feder. Die zurückliegenden Jahre hatten ihn verändert. Zu körperlicher Untätigkeit verurteilt, hatte er in seinem Turmzimmer gesessen und seine gesamte Gabenkraft aufgeboten, um unsere Küste gegen die Korsaren zu verteidigen. Doch in dem Maß, wie seine Muskeln schwanden, wuchs seine Aura, bis man den Eindruck hatte, als stünde man vor einem Glutofen. In seiner Gegenwart war ich mir seiner Gabe bewußter als seines Körpers. Gerüche, die ich mit ihm in Zusammenhang brachte, waren die eines Schreibers, Tinten, Pergamentstaub und das Aroma von Elfenrinde in seinem Atem. »Veritas«, sagte ich leise vor mich hin und fühlte das Wort in mir widerhallen, zurückgeworfen von den Mauern in meinem Kopf.
Ich öffnete die Augen. Wie sollte ich aus mir hinausdenken, wenn ich nicht meine Barrieren senkte. Mir Veritas vorzustellen blieb zwecklos, bis ich mein Bewußtsein öffnete – für mich einen Weg hinaus, für ihn einen Weg hinein. Nun gut. Das war leicht. Einfach entspannen. In die Flammen schauen und die winzigen Funken beobachten, die mit der Hitze nach oben stiegen. Tanzende Fünkchen. Die Zügel lockerlassen. Vergessen, wie Freund Will mit seiner Gabe an diesen Mauern gerüttelt und sie beinahe zum Einsturz gebracht hatte. Vergessen, daß nur diese Mauern meinen Verstand, mein Ich geschützt hatten, während ihre Fäuste mein Fleisch traktierten. Das widerwärtige Gefühl, vergewaltigt worden zu sein, vergessen, als damals Justin in mich eingedrungen war. Und Galen, der seine Stellung als Gabenmeister mißbraucht hatte, um mein Talent auszumerzen und mich zu zerbrechen.
So deutlich, als stünde er neben mir, hörte ich Veritas sagen: »Galen hat dich verletzt. Du hast zu deinem Schutz Mauern errichtet, die ich nicht zu überwinden vermag, und ich bin stark. Du mußt lernen, dich zu öffnen. Das ist schwer.« Und diese Worte wurden vor Jahren gesprochen, ehe ich von Justin und Will erfuhr, was mit der Gabe möglich war. Ich lächelte bitter. Wußten sie, daß es ihnen gelungen war, meine Gabe lahmzulegen? Wahrscheinlich hatten sie nie einen Gedanken daran verschwendet. Jemand sollte sich die Mühe machen, das aufzuschreiben. Irgendwann kam es einem König vielleicht gelegen zu wissen, wenn man einem der Gabe Kundigen gegenüber sein Talent als Waffe benutzte und ihn schwer genug verwundete, konnte man ihn hinter seinen Schutzwällen einschließen wie in einem Gefängnis, so daß er auf diesem Gebiet keine Gefahr mehr darstellte.
Veritas hatte nie Zeit gehabt, mir beizubringen, wie ich es anstellen sollte, diese Mauern durchlässig zu machen – im Gegenteil: er hatte mir gezeigt, wie ich sie noch verstärken konnte, um mich gegen ihn abzuschotten, wenn ich meine Gedanken nicht teilen wollte. Vielleicht hatte ich diese Lektion zu gründlich gelernt. Ich fragte mich, ob ich je Zeit haben würde, das Gelernte wieder zu vergessen.
Zeit, keine Zeit, unterbrach mich Nachtauge grämlich. Zeit ist ein Ding, das die Menschen erfunden haben, um sich damit das Leben schwerzumachen. Du grübelst darüber nach, bis mir der Kopf schwirrt. Weshalb folgst du dieser alten Fährte? Nimm eine frische auf, an deren Ende du vielleicht etwas Fleisch findest. Wenn du Beute machen willst, mußt du jagen. So ist es. Du kannst nicht sagen: Das Jagen dauert mir zu lange, ich will einfach essen. Es gehört alles zusammen; die Jagd ist der Beginn des Essens.
Du verstehst nicht, antwortete ich ihm müde. Jeder Tag hat nur
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