Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
schlimmer.
»Oh«, sagte er und dann: »Hatten wir einen Sohn? Ich kann mich nicht erinnern...«
Ich glaube, sie zerbrach daran, feststellen zu müssen, daß die Nachricht vom Tod seines Sohnes ihn weder erzürnte noch betrübte, sondern ihn nur in gelinde Verwirrung stürzte. Kettricken mußte sich betrogen fühlen. Ihre überstürzte Flucht aus Bocksburg und all die Strapazen, die sie erduldet hatte, um ihr ungeborenes Kind dorthin zu bringen, wo es vor Edel sicher war; die langen, einsamen Monate der Schwangerschaft und an deren Ende nicht Mutterglück, sondern Trauer und Leere und das Bewußtsein, vor ihrem Gemahl Rechenschaft ablegen zu müssen: das war im vergangenen Jahr ihre Wirklichkeit gewesen. Und nun stand sie vor ihrem Gemahl und König, und er konnte sich kaum an sie erinnern, und zu dem Tod des Kindes sagte er nur: »Oh.« Ich schämte mich für den gebrechlichen alten Mann, der aus blinzelnden Augen die Königin anstarrte und so verlegen lächelte.
Kettricken bewahrte Haltung. Sie wandte sich wortlos ab und ging davon. Ich spürte ihre eiserne Beherrschung und ihren großen Zorn. Merle, die neben Krähe hockte, schaute zu der Königin auf, als sie vorüberging und machte eine Bewegung, als wolle sie aufstehen und ihr folgen; doch mit einem kurzen Wink gebot Kettricken ihr zu bleiben. Allein stieg sie von dem gewaltigen Steinpodest hinab und schritt davon.
Soll ich ihr folgen?
Ja. Aber laß sie in Ruhe.
Für wie dumm hältst du mich?
Ich schaute Nachtauge nicht nach, denn ich wußte auch so, daß er trotz meiner Mahnung geradewegs zu ihr lief und seinen großen Schädel an ihr Bein schmiegte. Plötzlich ließ sich Kettricken auf ein Knie fallen, schlang die Arme um seinen Nacken und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell, um ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Nachtauge wandte den Kopf und leckte ihre Hand. Geh weg, schalt er mich, und ich zog mein Bewußtsein, von ihnen beiden zurück. Ich blinzelte und bemerkte, daß ich die ganze Zeit über Veritas angestarrt hatte. Sein Blick begegnete dem meinen.
Er räusperte sich. »FitzChivalric«, sagte er und holte Luft, um weiterzusprechen; aber dann stieß er sie als Seufzer wieder aus. »Ich bin so müde«, sagte er kläglich. »Und es ist noch so viel zu tun.« Er wies auf den Drachen hinter sich. Schwerfällig sank er neben der Skulptur nieder. »Ich habe mich so bemüht«, sagte er, zu niemand besonderem.
Der Narr faßte sich schneller als ich. »Prinz Veritas«, begann er und berichtigte sich: »Mein König, ich bin es, der Narr. Kann ich Euch zu Diensten sein?«
Veritas hob den Blick zu dem schmächtigen blassen Mann, der vor ihm stand. »Es wäre mir eine Ehre«, sagte er nach kurzen Besinnen, »den Vasalleneid und die Dienste von einem entgegenzunehmen, der sowohl meinem Vater als auch meiner Gemahlin so treu gedient hat.« Einen Augenblick lang war er der Veritas, den ich gekannt hatte, Prinz und König; doch dann trat wieder der vage Ausdruck auf sein Gesicht.
Der Narr trat näher und kniete neben ihm nieder. »Ich werde für Euch sorgen«, versprach er. »Ich werde für Euch sorgen, wie ich für Euren Vater gesorgt habe.« Damit stand er auf und wandte sich an mich. »Ich werde mich auf die Suche nach Feuerholz und frischem Wasser machen«, verkündete er. Sein Blick ging an mir vorbei zu den Frauen. »Wie geht es Krähe?« fragte er Merle.
»Sie wäre fast ohnmächtig geworden...«, begann Merle, doch Krähe fiel ihr ins Wort. »Ich war erschüttert bis ins Mark, und um die Wahrheit zu sagen, ich habe es nicht eilig aufzustehen. Aber das soll Merle nicht daran hindern, zu tun, was getan werden muß.«
»Gut, gut.« Der Narr schien vollkommen Herr der Lage zu sein. Er gab seine Anordnungen, als ginge es darum, eine Teegesellschaft zu organisieren. »Wenn du dann so gütig sein würdest, Merle, dafür Sorge zu tragen, daß das Zelt aufgebaut wird? Zwei Zelte, falls es sich irgend bewerkstelligen läßt. Sieh nach, was wir noch an Lebensmitteln haben und bereite ein Abendessen vor – ein reichliches Abendessen. Ich glaube, wir alle können es brauchen. Ich werde binnen kurzem mit Feuerholz und frischem Wasser wiederkehren – und Grünzeug, falls ich Glück habe.« Er warf mir einen kurzen Blick zu. »Hab auf den König acht«, sagte er mit gedämpfter Stimme, bevor er sich entfernte. Merle schaute dem Narren mit offenem Mund hinterher, dann erhob sie sich und ging auf die Suche nach den abgewanderten Jeppas. Krähe folgte ihr etwas
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