Die Legende von Shannara 01 - Brooks, T: Legende von Shannara 01
die Korridore des Palastes zur Bibliothek. Oparion Amarantyne ging voran, und seine Tochter trottete widerwillig hinterher. Phryne lauschte dem Geräusch ihrer Schritte in der Stille und fand es ungewöhnlich ruhig, selbst für einen Spätnachmittag, an dem Besucher nicht mehr vorgelassen wurden. Allmählich nahte die Zeit zum Abendessen. Sie grübelte noch einmal über die unvermeidliche Konfrontation mit ihrer Großmutter nach und versuchte, sich passende Worte zurechtzulegen. Aber irgendwie wollte es ihr nicht gelingen.
Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt, als sie die Kammer erreichten. Ihr Vater betrat sie zuerst, und Phryne folgte ihm. In der Mitte des Raumes stand Isoeld. Direkt vor dem Schreibtisch ihres Ehemannes. Sie hatte die Hände verschränkt und lächelte herzlich.
Neben ihr stand mit finsterer Miene der Oberste Minister Teonette.
»Dank euch beiden, dass ihr gekommen seid«, grüßte sie. »Es wird nicht lange dauern.«
»Was hat der denn hier zu suchen?«, stieß Phryne hervor und trat vor, um sich den beiden entgegenzustellen. Sie hatte zwar eigentlich nicht das Recht zu reden, aber sie war zu zornig, um darauf zu achten. Die Frechheit dieser Frau erboste sie. Wie konnte sie es wagen, ihren Liebhaber zu einem Treffen mit ihrem Ehemann mitzubringen und ihn in aller Öffentlichkeit mit dem lebenden Beweis ihrer Untreue zu konfrontieren?
»Worum geht es hier eigentlich?«, erkundigte sich Oparion Amarantyne, sichtlich verwirrt.
Isoeld machte einen Schritt nach vorn. »Es geht um dich. Es geht darum, ein Leben abzumessen. Und zwar deines, um genau zu sein. Leb wohl, Oparion.«
Im nächsten Augenblick stürmte eine maskierte Gestalt aus dem Schatten hinter der geöffneten Tür hervor und rammte dem König einen Dolch tief in die Brust. Der König schrie auf und taumelte vorwärts, aber der Attentäter schlang seinen freien Arm um den Hals seines Opfers, umklammerte ihn fest und stieß noch ein zweites und drittes Mal mit dem Dolch zu. Phryne schrie vor Schock und Wut, aber inzwischen hatte sich Isoeld auf sie gestürzt und schlug ihr hart ins Gesicht. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal… bis Phryne benommen auf die Knie sank.
Der Attentäter zog den Dolch aus dem Körper des sterbenden Königs und ließ ihn zu Boden fallen. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um, legte den Dolch neben Phryne und verschwand durch die offene Tür.
Isoeld beugte sich vor. »Dein Vater ist tot, Phryne, und du hast ihn auf dem Gewissen. Es muss ein furchtbarer Streit gewesen sein, wie es scheint. Die Wahrheit werden wir vielleicht nie erfahren. Jedenfalls hast du ihn mit deinem Dolch angegriffen, denn das ist dein Dolch, weißt du, und obwohl Teonette und ich alarmiert durch den Lärm herbeigelaufen kamen, sind wir zu spät gekommen, um dich aufzuhalten.«
Phryne versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, aber Teonette stand hinter ihr und hielt sie fest. Sie fing an zu schreien, und Isoeld sagte: »Schrei nur, so laut du kannst. Aber deine Reue über das, was du getan hast, kommt zu spät, um deinem Vater noch zu nützen. Was für eine furchtbare Sache, so ein Vatermord. Wahrscheinlich werden wir dich jetzt für viele Jahre nicht mehr zu Gesicht bekommen. Das heißt, wenn man dich nicht zum Tode verurteilt. Aber ich werde mein Bestes geben, um dafür zu sorgen, dass sie es nicht tun. Mir gefällt die Idee, dass du gesund und lebendig bleibst, und für den Rest deines Lebens weggesperrt wirst.«
Phryne schnappte nach Luft. »Das werden sie niemals glauben…«
Isoeld schlug ihr noch mehrere Male ins Gesicht. Das Mädchen konnte nicht mehr deutlich sehen, als ihr die Tränen in die Augen traten, und sie spürte, wie sich alles zu drehen begann.
»Dein Vater hat sich gewehrt, deshalb hast du all diese Spuren im Gesicht. Er hat hart um sein Leben gekämpft, selbst noch im Sterben. Aber es hat nicht gereicht. Seine Verletzungen waren zu schwer. Gut, lass sie fallen.«
Teonette ließ sie los, und Phryne sank zu Boden. Isoeld versetzte ihr noch mehrere Tritte, bis sie ausgestreckt am Boden lag, und dann stellte sie den Fuß triumphierend auf ihren Hals. »Der König ist tot, Phryne«, zischte sie. »Lang lebe die Königin!«
KAPITEL 29
Regen prasselte in sein Gesicht… kalt und schmerzhaft, als der Wind die Wassertröpfchen wie kleine Geschosse voranpeitschte. Er war wieder bei Bewusstsein. Er lag da und starrte in den Himmel empor, der so schwarz und zerbeult aussah wie der Boden eines Feuerkessels. Dann drehte
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