Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
Kopf, die Augen richteten sich auf sie. Er machte ihr mit Zeichensprache deutlich, dass sie einen Speer nach einem der Anwärter werfen sollte: ein sehr schlanker, drahtiger Alb, der seine dunkelblau schimmernden Haare in einem Zopf trug; die Umwicklung mit dem Lederband war eng und ungewöhnlich lang.
Ewìlor traf seine Wahl und möchte sehen, ob er sich täuscht. Sie zog ein Wurfgeschoss aus dem Köcher, so leise und lautlos, wie sie es auch auf dem Schlachtfeld beherrschte. Das Krachen der zusammenprallenden Schilde übertönte zwar beinahe alles, aber sie sah es als Herausforderung.
Haïmoná maß die Entfernung, löste sich zwei Schritte von der Mauer und hob den Arm. Sie legte nicht die übliche Kraft in die Bewegung, da sie den Blauhaarigen sonst unweigerlich erlegen würde. Das kann nicht Ewìlors Absicht sein. Er will die Sinne des Anwärters prüfen.
Schon jagte ihr Speer davon.
Innerhalb weniger Herzschläge überbrückte er die Lücke zwischen ihnen und senkte sich, die Spitze zielte auf den Rücken des Albs.
Bevor der Speer in den Leib eindringen konnte, drehte sich der Anwärter zur Seite und hielt den Schild vor seinen Körper. Damit ließ er das Geschoss in einem sehr flachen Winkel auftreffen, sodass es keinesfalls das Metall durchschlagen konnte.
Der Schaft brach beim Aufschlag, die geschliffene Spitze prallte ab, trudelte davon und hüpfte nach etlichen Schritten hell klimpernd über den Hof.
Der Blauhaarige stellte sich breitbeiniger und senkte den Schild ein wenig, die Muskeln wirkten dünnen Seilen gleich, die unter der Haut verliefen und zuckten. Seine Blicke durchbohrten die Werferin voller Wut. »Was sollte das? Bist du eine Ntîstai, die ihren Verstand verlor?«, rief er. »Und sage mir nicht, dass du mich für einen Sklaven hieltest!«
Das Üben kam zum Erliegen.
Alle Anwärter starrten zu Haïmoná. Manche packten die Griffe fester und hoben die Schilde leicht an, was nach einer unverhohlenen Drohung aussah.
Haïmoná zuckte mit den Achseln. »Ich kann dir die Frage nicht beantworten.« Das soll der Benàmoi selbst tun, fügte sie in Gedanken hinzu und nahm an, dass Ewìlor absichtlich schwieg, um zu sehen, wie der Anwärter nach dem Wurf handelte.
Aus der Reihe der Übenden löste sich ein weiterer Alb, der eine wilde blonde Lockenpracht trug und deutlich kräftiger gebaut war. Er hielt nicht an, sondern kam direkt auf Haïmoná zu. »Du magst eine Goldstählerne sein«, sprach er laut und rotierte den dreieckigen Schild dermaßen schnell um die Achse, dass die Konturen verschwammen. »Aber was erlaubst du dir?«
»Raikânor!«, rief ihn der Blauhaarige scharf zurück. »Es steht uns nicht zu!«
»Oh, es steht ihr auch nicht zu, einen Speer nach dir zu schleudern, Yágôras«, erwiderte er grimmig und verfiel in weittragende Zick-Zack-Sprünge, die Haïmoná das Zielen erschweren sollten; dabei tauchte sein Oberkörper beständig hinter dem Schild ab, pendelte lockend. »Los, versuch dein Glück bei mir!«, forderte er herablassend. »Was wird dir wohl gelingen, wenn dein Gegner dich kommen sieht?«
Du wirst dich wundern. Sie warf einen kurzen Blick zum Benàmoi, der ihr mit einer knappen Geste den Wurf erlaubte. So langte Haïmoná in den Köcher, ohne die Augen von Raikânor zu nehmen, und wirbelte den gewählten Speer vor dem Körper hin und her, sodass der Schaft surrte. »Du bist nicht einmal mutig«, schleuderte sie ihm die Worte entgegen, als seien sie Teil ihrer Geschosse. »Du bist lediglich anmaßend.«
Yágôras hatte jedoch bemerkt, wohin Haïmoná geschaut hatte, und wandte sich um. Er sah jetzt erst den Benàmoi, der seine Arme vor der Brust gekreuzt hatte und im wahrsten Sinne über den Geschehnissen stand. Er ahnte, was hinter dem vermeintlich sinnlosen Angriff steckte. Schon öffnete sich der Mund, um eine Warnung an seinen Gefährten zu senden.
Weise uns dein Geschick, stürmischer Anwärter. Haïmoná holte aus und täuschte an, auf den Kopf zu zielen, doch kurz vor dem Wurf senkte sie den Arm und schleuderte das Geschoss auf Höhe des Oberschenkels.
Raikânors Dreieckschild stieß nach unten und hielt den Speer auf, der wiederum an dem Metall zerbrach. »Und nun zeige, was du vermagst«, zischte er und vollführte einen Ausfallsprung. Die Kante sirrte waagrecht heran.
»Lerne durch Schmerzen!« Haïmoná griff hinter sich und zog zwei weitere Speere, drehte die Klingen zu sich, um Raikânor nicht zu töten, und kreuzte die Schäfte, um den nahenden
Weitere Kostenlose Bücher