Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
ausgetauscht, anstatt … »Verzeih mir, ich verdrängte es. Es ist noch … so frisch«, brachte sie leise über die Lippen und spürte, wie die Farbe aus ihrem Antlitz wich. »Ich danke für die Zuteilung, Benàmoi. Ich werde über Dsôn wachen.«
Steif wie eine Tote ging sie über den Platz, vorbei an den verstummten Anwärtern, die sie mitleidig betrachteten. Die Blicke schmerzten zusätzlich, denn alle wussten, was vorgefallen war.
Verlassen worden. Sie gab ihr Herz einer anderen. Einfach so. Haïmoná bewegte sich vorwärts, ohne ihre Umgebung wahrzunehmen. Auf Begrüßungen reagierte sie knapp, irrte durch die Korridore, die ihr plötzlich fremd vorkamen, fand sich im Garten wieder und lief über unberührten Schnee, bis sie in dem kleinen Hain ankam, der auf einem zerklüfteten Felsrücken stand.
Hier ging es nicht mehr weiter.
Ausgetauscht. Die Albin ging bis an den Rand der Abbruchkante und starrte in den Abgrund, der hundert Schritte nach unten verlief. Und nicht eine Zeile an mich.
Künstler und Musiker hatten das Gestein so behauen, dass der Wind sich daran rieb und willkürliche Melodien spielte, zu Ehren Samusins. Die Töne überlagerten sich und schwollen mehr und mehr an, die Böen rissen an ihren schwarzen Haaren und an ihrer Kleidung.
Ich will nicht Benàmoi auf einer Inselfestung sein. Ich will keine Garde leiten. Ich will … Haïmonás Augen füllten sich mit Tränen. Ich will sie. Einzig sie.
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie nichts gegen den Verlust unternehmen konnte; dass sie Caiphôra nicht zurückbekam; dass ihre einstige Gefährtin ihr Leben nicht mehr für sie geben würde.
Ich bin es nicht mehr wert. Haïmoná lehnte sich unbewusst nach vorne, neigte sich der Tiefe entgegen. Aber ich bin zu gut, um den Wogen des Wassergrabens bei ihrem Spiel zuzusehen. Es wäre Verschwendung. Ihre braunen Augen richteten sich auf den Boden in weiter Entfernung. Meine Unendlichkeit wäre Verschwendung.
Sie verzog die Lippen und hielt das Weinen zurück, reckte den Oberkörper noch weiter und lauschte auf die zufällig entstehende Musik, welche die Luft für sie spielte. Die schwarzen Strähnen tanzten und schlängelten sich wie Schattententakel.
Von einem Herzschlag auf den nächsten setzte der heftige Wind aus – und der ausgleichende Gegendruck wich von Haïmoná.
Wenn dies dein Wille ist, Samusin, folge ich ihm. Sie kam aus dem Gleichgewicht – und ließ den Sturz in den Abgrund zu.
Ein lautes Fauchen erfüllte die Stille, als würde ein erwachter Eisdrache seinen frostigen Brodem gegen sie werfen. Die eben noch säuselnde Melodie wich einem wütenden, schrillen Pfeifen, das in ihren Ohren gellte. Eine Böe von solcher Wucht, die der Albin den Atem raubte, traf sie und schleuderte sie empor.
Haïmoná fiel umgeben von wirbelndem Weiß hart auf den Vorsprung nieder, ins Gesicht hingen ihr die Haare, die sie erst zurückstreifen musste, um etwas zu sehen. Das Luftholen gelang ihr wieder, doch die Kälte des abrupten Windstoßes schien ihr bis in die Knochen zu reichen. Sie zitterte am ganzen Leib, klapperte mit den Zähnen.
Westwind! Der Gott hatte zu ihr gesprochen und sie vor der Endlichkeit bewahrt.
Ihre Blicke huschten umher. Sie rechnete fast damit, dass sich Samusin selbst zeigte, während die Bäume heftig nachwogten und sich knarrend bogen. Um sie herum stoben Schneewolken, die sich allmählich legten.
So wurde mir der Tod von höchster Macht verwehrt. Haïmoná kämpfte sich auf die Beine und lief durch den Hain zurück in die Garnison.
Es war ein Zeichen, das sie empfangen hatte. Nur das Deuten fiel ihr zunächst schwer.
Als die Albin die Mauern vor sich auftauchen sah, fasste sie den Entschluss, Caiphôra zurückzugewinnen. Es ist meine Bestimmung, an ihrer Seite und in den Reihen der Goldstählernen zu sein. Das war Samusins Botschaft an mich.
Jetzt brauchte sie nur noch eine Idee, wie dies zu bewerkstelligen war.
Möglicherweise sorgte der Aufenthalt auf der Inselfestung für die notwendigen Gedanken, die zu einem Plan führen würden.
Ishím Voróo (Jenseitiges Land), nördlich des Albaereichs Dsôn Faïmon, 4369. Teil der Unendlichkeit (5188/89. Sonnenzyklus), Winter
Die Goldstählerne Schar trabte fast durchgehend von Mondaufgang bis Mondaufgang nordwärts durch Ishím Voróo. Gelegentlich befahl Benàmoi Ewìlor eine kurze Rast, um von den Rationen zu essen und zu trinken, dann ging es weiter.
Die Veteraninnen und Veteranen liefen in loser Ordnung,
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