Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
mitschwang. »Du möchtest mir sagen, dass wir keinen Proviant mehr haben, und der Dämon –«
»Es kommt noch schlimmer«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich traf in den Gängen auf eine Botoikerin, deren Vetter wohl von einem unserer Assassinen getötet wurde. Sie sinnt nun auf Rache. Sie befehligt eine unüberschaubar große Horde aus Scheusalen und Barbaren. Ich versuchte, sie zu töten, aber es misslang.« Haïmoná hielt Caiphôras Taille mit einer Hand umfangen, teils um sie zu stützen, teils um sie zu spüren. »Sollte sie uns finden, werden wir alle sterben. Bedenke dies.«
»Ich verstehe.« Yágôras stöhnte auf. »Was ist, wenn Raikânor noch lebt?«, raunte er und schickte sich an, eine schiefe Mauer zu erklimmen. »Wenn er uns hört und sich nicht verständlich machen kann?« Er hatte den oberen Rand erreicht und hielt das Gleichgewicht. »Ist das gerecht, Samusin?«, schrie er über die Ruinen. »Wieso gibst du mir keinen Hinweis?« Er holte tief Luft. »Raikânor! Raikânor, wo …«
Knisternd schoss ein greller, vielfarbiger Blitz über die Albinnen hinweg und traf Yágôras gegen den schwarz-goldenen Brustharnisch.
Der Ntîstai stürzte rücklings von der Mauer, zog eine Qualmspur hinter sich her und schlug zu seinem Glück auf einem weichen Sandberg auf; in einer Wolke aus Rauch und Staub rollte er den Albinnen vor die Füße.
Eine weitere Entladung knallte.
Die Mauer, auf der Yágôras eben noch gestanden hatte, zerbarst im Einschlag der gleißenden Energien, danach erfolgte das Rumpeln und Grollen wie von einem Unwetter, das sich in die Höhle schob.
»Das ist er «, rief Caiphôra. »Der Dämon greift uns an.«
Haïmoná bückte sich und prüfte Yágôras’ Halsschlagader. Er lebt noch . »Nimm so viele Stemmeisen, wie du zu tragen vermagst, und folge mir«, wies sie Caiphôra an. Ohne lange zu zögern, warf sie sich Yágôras über die Schulter und hastete auf das Tor zu, durch das sie gekommen war. »Dort ist ein Ausgang. Ich bin sicher, dass er uns nicht durch die schmale Passage folgen wird.«
Sie liefen durch die Trümmer, das Krachen und die Blitze schossen um sie herum in die Überreste der Festung. Die aufspritzenden Dreckschleier gaben ihnen Deckung, die Albinnen woben dazu noch Dunkelheit um sie herum, sodass die Kreatur keine sichtbaren Ziele fand.
Umherfliegende Steinsplitter trafen Haïmoná ins Gesicht, Staub knirschte in ihrem Mund, doch sie hetzte mit Yágôras auf der Schulter weiter.
Caiphôra hielt die Geschwindigkeit trotz der Stemmeisen und ihrer Entkräftung. Das Wissen, das die Endlichkeit ihnen folgte und ein einziger Treffer ausreichte, verlieh beiden enorme Kräfte.
Endlich erreichten sie das Tor.
Haïmoná ging zuerst hinaus, dann keuchte die rothaarige Albin hinterher. »Warte hier.« Schnell legte sie Yágôras auf den Boden und kehrte in die Höhle zurück.
Sie prüfte den Mechanismus, mit dem der Durchgang verschlossen wurde. Es sah nach mehreren Riegeln aus, die von Hand vorgelegt werden mussten. Über einen Zahnradmechanismus schob sich ein Sperrbolzen von oben durch alle Riegel und hielt sie unverrückbar an ihrer Stelle.
Haïmoná fluchte. Wie dumm, dass wir auf der falschen Seite stehen, um ihn auszulösen. »Caiphôra, wir brauchen die Stemmeisen, um das Tor zu verkeilen«, rief sie hinaus und wollte los. »Bete zu Samusin, dass wir …«
Das Knistern hinter ihr folgte zusammen mit dem Einschlag in ihren Rücken.
Haïmoná sah für die Dauer eines Atemzugs nur Weiß, dann schälte sich die Umgebung behäbig aus der Helligkeit. Sie lag neben dem Tor, die Kraft des Angriffs hatte die Albin gegen den offenen Flügel geschleudert und ihn einrasten lassen.
»Haïmoná?«, vernahm sie Caiphôra leise von der anderen Seite. »Windschwester, was tust du?«
Die Ntîstai erhob sich mit zitternden Gliedern, hustete Blut und fühlte die Schmerzen von Herzschlag zu Herzschlag stärker, die durch ihren Rücken tobten. Der Blitz musste Mantel, Kleidung und Rüstung durchdrungen haben, es roch nach rohem Fleisch und Blut.
Haïmoná tastete unter Schock hinter sich und fühlte freiliegende Knochen, das Rückgrat und das Schulterblatt. Schwindel packte sie, die Ohnmacht griff nach ihr. Ich werde sterben, sickerte es durch den von Qual halbbetäubten Verstand.
»Haïmoná!«, schrie Caiphôra außer sich.
»Die Stemmeisen«, rief sie zurück, so laut sie noch konnte, während es hinter ihr erneut knisterte. Die nächste Entladung stand bevor, die sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher