Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
dauerte es noch lange.
Horgàta beabsichtigte, sich von Krone zu Krone springend nach Osten zu bewegen, wo sie ihre Einheit bei dem wilden Ritt hinter sich gelassen hatte. Auf diese Weise wäre sie vor den Pfeilen einigermaßen geschützt, und die Lanzen erreichten sie nicht einmal im Ansatz.
Der nächste geeignete Baum lag etwa acht Schritte entfernt.
Unter normalen Umständen hätte keine Bedenken gehabt, bis dorthin zu gelangen. Aber ohne Anlauf von einem verschneiten Ast abspringen? Ihr Gewicht würde nicht ausreichen, um die Spitze des Baumes in Schwingung zu versetzen und daraus den notwendigen Schwung zu ziehen.
Unter ihr erklangen die Elbenstimmen, Geschosse sirrten durch die Äste, zischten jedoch weit an ihr vorbei. Diesen Schutz konnte ihr keiner nehmen.
Horgàta suchte sicheren Halt mit den Stiefeln und sprang mit einem lauten Schrei, um sich anzuspornen.
Sie glitt über die kleineren Wipfel hinweg, sah die Wimpel an den Lanzen unter sich flattern, die helmgerahmten Gesichter der Feinde, die hasserfüllt zu ihr hinaufstarrten und ihr den Tod wünschten.
Dann krachte Horgàta in die Äste einer Tanne, wesentlich tiefer als gedacht. Ihre Finger krallten sich in die langen Zweige, bekamen Halt und fassten sofort nach, um sich dichter an den schützenden Stamm zu ziehen. Ein Pfeil schrammte über ihren Rücken, das Tionium gab ein klingendes Geräusch von sich.
Horgàta arbeitete sich fluchend hinauf bis zum Wipfel, hörte das Schnellen einer Sehne und zog den Kopf ein, sah sich dabei um: Auf dem Baum neben ihr hatte eine Elb Position bezogen, legte das nächste Geschoss auf und stieß einen langen Ruf aus.
So viel zu ihrem Plan, ungeschoren und ungestört von Baum zu Baum zu gelangen.
Horgàta kroch abwärts, bis der Gegner sie nicht mehr sehen konnte, und sprang jetzt von Stamm zu Stamm, hoffend, dass den Elben irgendwann die Pfeile ausgingen. Die Zeit stand auf der Seite der Albin, sie fühlte sich kräftig genug.
Doch bald musste Horgàta einsehen, dass ihr Vorhaben an einem beachtlichen Fehler krankte: Der Wald war unvermittelt zu Ende.
Vor ihr breitete sich eine sachte abfallende, geschwungene Ebene aus, die sich eine Meile von ihr entfernt senkte und in schneefreies Gelände führte. Ich bewegte mich in die falsche Richtung! Weit und breit sah sie keine Anzeichen ihrer eigenen Truppen.
Horgàta vernahm den Hufschlag ihrer Verfolger am Boden, hörte wieder die Rufe unter sich. Die Elben mutmaßten, auf welchem Stamm sie sich befand.
Bald krachten die ersten Axtschläge, während die Bogenschützinnen in der Ebene aufmarschierten, Pfeile auf den Sehnen und bereit, ihn gegen ein Ziel zu senden.
Der Albin kam ein Gedanke.
Sie nahm den Oberschenkelknochen der getöteten Feindin aus dem Gürtel, prüfte ihn erneut. Es könnte gelingen! Sie zückte ihren Dolch und schnitzte das Gebein in Form. Zwar konnte sie es danach nicht mehr für ihr anfängliches Vorhaben nutzen, aber sollte es gut gehen, bekam sie in kurzer Zeit genügend Material, um einen kleinen Wald aus Knochenbäumchen anzufertigen. Doch ein Fehler, und es ist aus mit mir.
Die Sonne versank, die Schatten der Tannen fielen langgezogen auf den Schnee.
Die ersten gefällten Bäume krachten nieder, und die Erschütterungen rollten durch Horgàtas Refugium. Die Zeit wurde zu ihrem Feind, die Dunkelheit kam nicht mehr rechtzeitig zur ihrem Vorteil und ihrer Rettung.
Sie wischte die letzten Spänchen von ihrem Werk, bohrte die angedeuteten Löcher mit der Dolchspitze nach, schob die letzten Reste des Knochenmarks mit Zweigen und Ästen heraus. Nach einem letzten Abreiben setzte sie die Lippen an die Mundöffnung und legte die Finger auf die Löcher. Behutsam blies sie hinein.
Die Beinflöte klang leicht verstimmt. Horgàta würde die Bohrungen für ein gelungenes Spiel korrigieren müssen, doch vorerst erfüllte sie ihren Zweck. Bei aller Eile, die aufgrund der Umstände geboten war, nahm sie sich die Muße, die albische Melodie mit aller Würde, mit aller Herrschaftlichkeit, die ihr gebührte, zum Besten zu geben. Sie blies stärker, damit die Weise gehört wurde.
Die finsteren, beängstigend und zugleich wunderschönen Töne drangen durch den dunklen Tann, flogen über die Ebene und strömten durch Ishím Voróo.
Die Elben wussten nun, wo sich Horgàta befand, und vermehrten ihre Anstrengungen. Die Klingenhiebe prasselten gegen den Baum und versetzten den Stamm in anhaltendes Schwingen; Schnee rieselte von den Ästen.
Horgàta
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