Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
wandte Firûsha den Kopf nach rechts und links: Sie stand in Dsôn Sòmran, in ihrem Zimmer, und sah an Ranôria vorbei zum Fenster hinaus auf die Stadt hinab. »Was ist geschehen?« Es roch nach Blüten, nach Frühling. Leise Musik erklang von draußen.
»Ein böser Traum, meine Tochter«, erwiderte ihre Mutter in ihrer gütigen Art. »Ein Fieber schüttelte dich, und wir bangten sehr um dich.« Sie wandte sich zur Tür und rief: »Tirîgon, Sisaroth! Kommt und seht nur, wie gut es eurer Schwester wieder geht.«
Ihre Brüder eilten in den Raum, einer in Rüstung, der andere in einer Priesterrobe. Sie lachten fröhlich und umarmten Firûsha, die von Freude überwältigt wurde. Sie weinte und drückte ihre Familienmitglieder nacheinander fest an sich. »Dann bin ich aus einem bösen Traum erwacht?«
»Ja, das bist du.« Ranôria machte einen halben Schritt nach hinten, legte die Finger zusammen. Der Knochenschmuck klapperte leise. »Ich freue mich so, Kind! Lass uns zusammen singen. Der Wettbewerb ist bald, und ich möchte dich als meine Nachfolgerin einführen. In deiner Kehle schlummert mein Erbe.«
»Sing doch für uns, Schwester«, bat Tirîgon ausgelassen.
»O ja! Das wäre zu schön«, bettelte Sisaroth und applaudierte. »Lass uns hören, was Mutter dir beibrachte.«
Firûsha fühlte sich tatsächlich wie zu Hause. Die Gerüche, die Geräusche der Stadt, der Anblick ihrer Familie, das Lieblingskleid an ihr. Herrlich! Ich bin erwacht. Sie lächelte die drei an und sang eine Weise, die von Heimkehr handelte, von der Freude des Zurückkommens und dem Fest, das sich anschloss.
Aber kaum verklang der letzte Ton, erbat Tirîgon ein weiteres Lied.
Firûsha erfüllte ihm geschmeichelt seinen Wunsch; auch als Sisaroth noch mehr Lieder hören wollte, stimmte sie zu. Zum Abschluss verlangte ihre Mutter einen ganzen Zyklus, eine Folge von Balladen.
Ton reihte sich an Ton. Firûsha vergaß die Zeit.
Es gab nichts anderes mehr als die Silben, die Lieder, die Texte und deren richtige Betonung, die glücklich strahlenden Antlitze ihrer Geschwister und ihrer Mutter. Sie sang und sang und sang – bis die Erschöpfung zu groß wurde.
»Ich benötige eine Pause«, bat sie krächzend. »Einen Tee mit Honig und Kräutern, und danach …«
»Nichts da!«, herrschte Tirîgon sie an und packte ihren Arm. Sein Griff tat weh, brannte wie von glühendem Eisen. »Du singst weiter!«
»Aber es geht nicht!«, rief Firûsha und schrie auf, als Sisaroth sie am anderen Oberarm griff und zudrückte.
»Sing!«, befahl ihr zweiter Bruder drohend. Seine Finger schmerzten wie kältestes Eis, das sich durch die Haut fraß.
»Mutter!«, sagte Firûsha flehend. »Sie sollen mich lassen!« Sie bekam fürchterliche Angst.
Der Schlag, den Ranôria ihr mitten ins Antlitz gab, traf sie hart und unvorbereitet. Ihr Kopf flog zurück, das Diadem löste sich aus ihren schwarzen Haaren und landete auf dem Boden. »Du undankbares Stück«, schnarrte ihre Mutter und langte in den Schopf, rüttelte fest daran und riss büschelweise Strähnen heraus. »Du tust, was sie von dir verlangen!« Ihre rechte Hand packte Firûshas Kinn und zwang den Blick zum Fenster hinaus. »Siehst du nicht, was deine Weigerung anrichtet?«
Firûsha riss die Augen weit auf: Ein hausgroßes Scheusal stapfte durch Dsôn, eine Mischung aus Óarco und Mensch, das mit den Fäusten durch die Dächer stieß und Albae herauspflückte. Die Unglücklichen wurden von ihm achtlos nach unten geschleudert, in den Boden des Trichters, in dem sich ein Schlund geöffnet hatte. Kreischend flogen die Opfer der Bestie in das Loch.
»Deine Stimme vermag, es aufzuhalten«, wisperte ihr Tirîgon von rechts zu.
»Allein deine Stimme«, flüsterte Sisaroth von links.
»Und nun erhebe sie«, raunte ihre Mutter von vorn. Ihr Lächeln war starr und puppenhaft, das Antlitz eine regungslose Maske.
Unvermittelt lösten sich die schwarzen Haare mitsamt der elf hellen Strähnen und fielen auf ihre Schultern. Die Haut verfaulte von der Stirn bis zum Hinterkopf, die Ohren wurden zu schwarzen, verschrumpelten Bohnen und kullerten herab. Die Haut wich dem blanken Schädel, der zuerst blutig feucht glänzte und plötzlich sauber und weiß erstrahlte.
Dann erhob sich Tossàlor hinter ihrer Mutter und kratzte lachend Ornamente in das Gebein, während Ranôria stillhielt und unentwegt wiederholte: »Sing! Sing! Sing …«
Sisaroth und Tirîgon fielen in die Beschwörung mit ein. Aus Dsôn schrillte das
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