Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Geschrei der Sterbenden und peinigte Firûshas Seele zusätzlich zum grauenvollen Anblick ihrer gemarterten Mutter.
Ich muss es tun! Die junge Albin öffnete den Mund.
Doch über die Lippen sprang ein Ton, der sämtliche Scheiben und alles Glas des Zimmers zerbersten ließ.
Tossàlor zuckte erschrocken zusammen und bohrte eine Lanzette tief durch den Schädelknochen in Ranôrias Gehirn. Sie kreischte auf.
Ihr Infamen! Firûsha wollte »Mutter« schreien, doch wieder kam nichts anderes als der grässliche Laut hervor.
»Was tust du?« Tirîgon versetzte ihr einen harten Knietritt in den Bauch, der ihr das Essen die Kehle emporjagte.
»Willst du sie umbringen?« Sisaroth trat ebenfalls zu, traf seine Schwester gegen die Brust.
Ranôrias Arme schnellten empor, die Hände hielten Firûshas Wangen umklammert und schienen sie zerquetschen zu wollen. »Willst du mich umbringen?«, sprach auch sie anklagend. »Willst du uns alle umbringen? Dsôn wird untergehen! Wegen dir!«
Das ist verrückt! Firûsha warf sich hin und her, doch sie vermochte die Griffe der drei Albae nicht zu sprengen. »Ihr seid nicht meine Familie!« Ihre Blicke richteten sich auf die Lanzette, die aus dem Schädel ihrer Mutter ragte. Es gibt keinen Tossàlor in Dsôn. Ich stehe in der Kammer, vor dem Altar, nicht in meiner Heimat!
Firûsha schloss die Augen, pumpte die Lunge voller Luft und stieß einen gewaltigen Schrei aus. Ohne Melodie, ohne Silbe. Nur ein einziger ohrenbetäubender Laut.
Als sie die Lider ruckartig hob, erkannte sie den bemalten, gravierten Schädel vor sich. Sie befand sich im kleinen Räumchen, kniete vor dem Altar und zitterte am ganzen Leib. Der Zauberbann war durchbrochen.
Aber für wie lange? Noch bevor das magische Wesen zu ihr zu sprechen vermochte, packte Firûsha einen der Kerzenständer und drosch ihn auf den entfleischten, alten Kopf.
Das trockene Gebein zersprang in viele Stücke, sogar der Unterkiefer ging durch die Attacke entzwei und verlor mehrere Zähne.
»Was sagst du nun?« Ächzend schlug Firûsha zu, bis von den Augenhöhlen nichts mehr übrig und der Schädel kaum mehr war als eine Hand voller Splitter. »Habe ich dich zum Schweigen gebracht und deine Trugbilder vernichtet?«
Firûsha erhob sich und wankte die Stiegen hinauf.
Den Herrn des Palastes und des Glassees gab es nicht mehr. Wenn es nach ihr ginge, würde Marandëi ihm folgen.
Das Rechnen ist mitunter
eine besondere Wissenschaft.
Eins und eins
sind zwei.
Doch sind sich eins und eins
nicht eins,
wird eins daraus.
So kommt es,
dass aus zwei und eins
auch nur eins werden kann.
Weisheiten, aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Phondrasôn
Tirîgon erwachte, weil Esmonäe neben ihm fehlte. Er vermisste ihre Wärme. Wohin ging sie?
Feuerschein drang durch seine geschlossenen Augen, er vernahm unterdrücktes Lachen. Die Stimmung außerhalb seiner Schlafkoje schien ausgesprochen gut.
Aus einem unbestimmten Gefühl heraus richtete er sich nicht auf, sondern spähte durch einen Lidspalt.
Der Vorhang war nicht vollständig zugezogen. Er sah Sisaroth und Esmonäe durch die breite Lücke zusammen an den Flammen sitzen. Sie fütterte ihm mit einer zweizinkigen Gabel Brotstückchen, die sie in die Soße eingetaucht hatte. Sein Bruder zog die Krumen mit den Lippen ab, sie wischte mit dem Daumen über seine Oberlippe und leckte sich den Finger ab. Sisaroths Hand lag dabei locker auf ihrem Rücken, der Blick war eindringlich und eindeutig auf Esmonäe gerichtet.
Damit bestätigte sich Tirîgons Verdacht. Gefühle regten sich, die sich gegen seinen Bruder richteten. Was glaubt er, was er sich herausnehmen darf?
Es galt als normal, dass bei seinem Volk eine Bindung niemals von Dauer war. Wer das Geschenk der Unsterblichkeit von der Schöpferin Inàste erhalten hatte, wollte die Ewigkeit nicht mit nur einer einzigen Person teilen. Doch galt der Verhaltenskodex, dass man sich treu blieb, bis einer oder beide die Auflösung des Zusammenseins deutlich und vor Zeugen verkündete. Vor allem durfte es der Verlassene als Erster erfahren.
Tirîgon konnte sich nicht entsinnen, Esmonäe freigegeben zu haben. Aus ihrem Mund waren die Worte ebenso wenig gedrungen. Die Verbindung galt damit nicht als aufgehoben. Was sein Bruder und seine Gefährtin somit taten …
Was tut sie denn schon?, sagte er zu sich selbst und schloss fest die Augen. Sie redet mit ihm und füttert ihn aus Spaß.
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