Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Untergewand ab. »Ich will dich!« Esmonäe ging zum Brunnen und wusch sich Gesicht und Hände, verschwand in einer Schlafkoje und winkte ihm zu.
Tirîgon tat es ihr zögernd nach und kletterte zu ihr.
Jeglicher Widerstand und sämtliche Vorbehalte schmolzen in ihren Armen.
Phondrasôn
Firûsha trommelte mit den Fäusten so fest sie es vermochte gegen die Mauer. »Hört mich jemand? Hilfe! Ich stecke hier fest!«
Zuerst hatte sie gehofft, die Steine aus den Fugen lösen zu können – aber davon hatte sie sich verabschiedet. Weder Tritte noch das Dagegenwerfen mit all ihrem Gewicht brachte etwas. Nach einem Hammer oder einem anderen Werkzeug, um dem Gefängnis zu Leibe rücken zu können, suchte sie in den Räumchen vergebens.
Aber dass sie festsaß, war nicht das Schlimmste.
Dazu kam, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte. Der Palast schien jenseits der Wände zweifach so groß zu sein wie das eigentliche Gebäude selbst.
Ich will nicht verrecken wie eine gefangene Ratte! »Verflucht!«, schrie Firûsha und eilte weiter durch die engen Gänge, durch die sie stellenweise nur mit viel Mühe gelangte und sich längs hindurchschieben musste. Jeder, der eine breitere Statur als eine schmale Albin hatte, würde stecken bleiben.
Inzwischen war Firûsha sogar bereit, sich von Marandëi finden und befreien lassen. Hauptsache, sie konnte ihr Gefängnis verlassen. Eine Ausrede würde ihr rechtzeitig einfallen, sobald sie auf die Cîanai traf. Den Anblick werde ich nicht vergessen. Dieses Altärchen, der seltsame Schädel, die Beschwörungsgesänge …
Plötzlich stolperte sie durch eine geöffnete Gittertür in eine Kammer.
Diffuses Licht fiel von oben herein. Marandëi schien hier lange nicht mehr gewesen zu sein. Der Staub lag hoch, Spuren gab es keine zu sehen. Firûsha sah ein schräg gestelltes Schreibpult, an den Wänden hingen Papiere mit Zeichnungen und Formeln.
Was ist das denn? Sie trat näher und betrachtete die eilig gefertigten Skizzen und exakten Darstellungen: Fundamentdicke, Höhenangaben, Materiallisten, Risszeichnungen von Säulen, in sich gedrehte Metallstreben, Verankerungsmodelle, Berechnungen und Zahlenfolgen, uralte albische Runen …
Firûsha ging umher, während sie sich umsah, und fand auf dem Zeichenpult die Darstellung eines Turms.
Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen, als sie zusammenzählte, was sie in Augenschein genommen hatte. Ihr Infamen: Sie war es, die den Turm errichtete, in dem sie und Sisaroth festsaßen! Es gab keine ominösen Erbauer. Sie hob das Blatt an und faltete es, steckte es unter ihr in Mitleidenschaft gezogenes, verdrecktes Gewand. Irgendeine Gemeinheit geht vor. Sie treibt ein Spiel mit uns, das ich nicht verstehe. Meine Brüder werden …
»Firûsha!«, raunte eine freundliche Stimme. »Wo bist du?«
Sie presste das Ohr gegen die Mauer. »Tirîgon? Hier! Ich bin hier!«, rief sie und schlug mit der flachen Hand gegen die Mauer.
»Geh weiter nach rechts«, vernahm sie die Stimme. »Ich führe dich zu einer dünneren Stelle.«
»Ja! Sprich weiter!« Sie war erleichtert und der festen Überzeugung, dass alles gut werden würde. Firûsha lief und folgte den Anweisungen ihres Bruders – als es unter ihren Füßen klickte und sich der Boden öffnete.
Sie drehte sich im Fallen und entging bei ihrem Aufschlag knapp den langen Spitzen, die aus dem Boden ragten und auf denen die Knochen von weniger Glücklichen steckten.
Firûsha rollte sich über die Schulter ab, keuchend rutschte sie bis an die Wand und sah sich um. Sie war in einem Raum gelandet, der keinen anderen Zugang als den Schacht besaß, durch den sie gestürzt war. Eine weitere Absicherung gegen unbefugte Besucher in Marandëis kleinen heiligen Hallen.
Firûsha sammelte Knochen ein, um sie als Kletterwerkzeug zu benutzen, machte sich sofort an den Aufstieg. Sie nutzte die Fugen in den Mauern, und es gelang ihr, sich bis zur Öffnung hochzuarbeiten. Die Knochen rammte sie dazu in die dünnen Spalte, die zu schmal für ihre Finger waren, um sich Halt zu verschaffen. Das alte Gebein knisterte, hielt jedoch ihr geringes Gewicht.
So einfach gehe ich nicht in die Endlichkeit. Schweißgebadet kroch sie in den Gang zurück.
»Firûsha? Bist du da?«, vernahm sie die Stimme.
»Ich bin da«, erwiderte sie ächzend. Sie erkannte, dass es keiner ihrer Brüder war, der nach ihr rief. Ist es das Gemäuer selbst, das mich in den nächsten Hinterhalt locken will? Marandëi war eine Cîanai und konnte
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