Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
zunehmender Verwunderung sah er Gàlaidon dabei zu, wie er den Verband von der rechten Hand löste. »Ich bin kein guter Heiler, falls das dein Anliegen sein sollte.«
»Nein«, erwiderte der Sytràp kalt und entfernte die ausgefranste Stoffbahn Wicklung um Wicklung.
Die Finger, die zum Vorschein kamen, waren sonderbarerweise ohne Verletzung, ohne einen Schnitt, ohne eine Quetschung. Stattdessen funkelte am Zeigefinger ein besonderer Ring auf: Tionium und Silber, Intarsien aus Bein, ein dunkelvioletter Stein auf der Wappenplatte.
Tirîgon wusste unverzüglich, wen er vor sich hatte. Der Ring bildete das einzige Erkennungszeichen, das es jemals zwischen Auftraggeber und Mörder gegeben hatte.
Gàlaidons Hand legte sich an den Dolchgriff. »Mein Anliegen ist ein anderes.«
Phondrasôn
Sisaroth erreichte die Kammer, in der er den Schädel des Infamen aufbewahrte, und entzündete die Lampen. Danach legte er die Rüstung ab und tauschte sie gegen die dunkelbraune, bestickte Priesterrobe.
Da er Firûsha zutraute, das Artefakt aus Angst erneut zu zerstören, hatte er es gut versteckt. Niemand würde es finden, sofern man ihn nicht bei seinem Tun beobachtete.
Er stieg auf die kleine Leiter, gelangte an die lose Wandverkleidung, die er mit einem Ruck entfernte, und zog das Kistchen hervor. Ein Sprung brachte ihn auf den Boden zurück.
Wie geht es dir, Shëidogîs? Er öffnete es und nahm den Schädel ehrfürchtig heraus.
Sisaroth sah ihn als Marandëis Vermächtnis. Die Cîanai hatte das rudimentäre Wissen ihres jungen Priesterschülers vertieft. Dazu studierte er nach ihrem Tod unentwegt ihre hinterlassenen Aufzeichnungen über den Infamen, die Rituale und die Symbole, die man dabei nutzen musste, um dessen Gunst zu erlangen.
Und doch ist alles Wissen vergebens, wenn man die Seele nicht erneut in den Schädel locken kann. Sisaroth betrachtete den skelettierten, bearbeiteten Kopf, auf dem Marandëis getrocknetes Blut haftete und allmählich abblätterte. Im Gegensatz zu seiner Schwester fürchtete er sich nicht vor den schwarzen, leeren Augenhöhlen. Wieso erreichte ihr Opfer nichts?
Tossàlors Wortmeldung hatte ihm die Eingebung gebracht. Neuerliche Beschwörungsversuche wollte er mit den Albae unternehmen, deren Leben nach Ansicht der Heiler verwirkt war. Er glaubte, dass es auf die Menge der Gaben ankam: Shëidogîs wollte mehr Blut, mehr Kraft für sich geopfert wissen, ehe er sich meldete. So weit zumindest die Hoffnung.
In Marandëis Aufzeichnungen hatte er gelesen, dass der Infame Wunder vollbrachte. Und ein Wunder wäre es, wenn der Unterirdische seinen Verstand zurückbekommt und uns nach Tark Draan führt. Es bedurfte zudem gewisser Vorbereitungen, um den Geist des Zwergs zu beeinflussen; diese Rasse galt als besonders dickköpfig und schwer zu beeinflussen.
Er setzte sich an den Schreibtisch und wälzte die Aufzeichnungen.
Sisaroth plante, sich die Freundschaft auf magische Weise zu erzwingen. Die Cîanai notierte in den Büchern Rezepturen für Tränke, die darauf abzielten, die Meinungen und Ansichten eines Lebewesens zu ändern. Dauerhaft.
In Verbindung mit den passenden Runen in seiner Haut, um die anhaltende Bindung der Zauber zu verstärken, würde sich der Unterirdische bei seinem Erwachen bis ans Ende seines Daseins fast als verlorener Bruder der Drillinge betrachten.
Doch dazu benötige ich Shëidogîs, der mir die Macht verleihen muss, die er schon Marandëi gewährte. Sisaroth stöberte in den handgeschriebenen Seiten, verglich Abschnitte miteinander, versuchte, auch die unleserlichen Stellen zu entziffern, weil genau darin der Hinweis verborgen liegen konnte, den er benötigte.
Ein Lufthauch brachte die Kerzen zum Flackern.
Das war in den engen, mitunter zugigen Kammern hinter den Mauern des Palastes nichts Ungewöhnliches.
Aber der Alb fühlte sich unvermittelt beobachtet …
Ist es Einbildung? Sisaroth hielt inne und drehte sich langsam um.
Einen Schritt von ihm entfernt stand Tossàlor, gekleidet in sein purpurfarbenes Gewand, und ein kühles Lächeln auf dem Antlitz. Sein Blick ging an ihm vorbei auf den Schädel, der Ausdruck in seinen Augen war begierig und glücklich.
Es war den Albae des engsten Kreises nicht verboten, sich in den geheimen Gängen aufzuhalten, doch Sisaroth empfand das Eindringen des Künstlers als Anmaßung und Störung. »Wolltest du mit mir sprechen?«
Tossàlor schüttelte bedächtig den Kopf, seine Lippen blieben geschlossen.
»Suchst du eines
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