Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
meiner Geschwister?«
Wieder eine verneinende Bewegung, die Pupillen wandten sich nicht vom Relikt ab.
Nun wurde es Sisaroth zu merkwürdig. »Dann bitte ich dich, in dein Atelier zurückzukehren und dich um deine Schnitzereien …«
»Seit ich ihn berühren und zusammensetzen durfte«, wisperte Tossàlor beglückt, »geht er mir nicht mehr aus dem Sinn. Die Struktur ist … einmalig! Sensationell! Geradezu mitreißend schön. Er ist nicht dazu gemacht, in einer Kammer zu stehen und nur für dich bestimmt zu sein, Sisaroth.«
Der Tonfall warnte Sisaroth, dass der Knochenschnitzer sich in einem Zustand befand, in dem er jenseits klarer Gedanken war. Ist es Shëidogîs’ Macht oder sein verrücktes Hirn? »Ich musste ihn vor meiner Schwester verbergen, da sie ihn sonst vielleicht wieder zerstörte.«
»Ich hätte ihr dafür das Herz herausgerissen«, erwiderte Tossàlor unverzüglich. »Niemand darf ihm etwas antun.« Erst jetzt richteten sich die Blicke auf den Alb. »Dein Versteck war gut. Ich habe ihn nicht gefunden und doch so große Sehnsucht nach ihm.«
»Sehnsucht?« Sisaroth fürchtete, dass der Schädel den Verstand des Künstlers manipulierte wie bei Firûsha – jedoch mit der gänzlich gegenteiligen Wirkung. Das Relikt zieht ihn herbei. Wie oft mag er bereits hier gewesen sein?
»Ja. Sehnsucht.« Tossàlor schob sich näher heran, streckte schüchtern den Arm aus und berührte das Gebein zärtlich mit den Fingern, strich über das Blattgold und die verkrusteten Perlen; dann seufzte er glücklich. Die Hand blieb, wo sie war. »Marandëi erlaubte mir nicht, dass ich ihn mir ausleihe. Es half kein Drohen und kein Betteln.«
»Das werde ich auch nicht. Er könnte Schaden nehmen.« Das Verhalten schürte sein Misstrauen und seine Vorsicht. Sie sagte mir nichts davon. Sicherlich hatte sie die Schwärmerei nicht ernst genommen.
»Aber ich würde ihm doch nichts tun!«, entrüstete sich Tossàlor. »Er bekommt einen Platz auf einem Regal und sieht mir zu, wird mich inspirieren und Pate für neue Werke stehen. Ihm zu Ehren nehme ich die besten Knochen unseres Volkes und errichte ihm einen Schrein. Shëidogîs wird es gefallen.« Er streichelte die obere Schädelpartie, dann legten sich die Finger darum.
»Ich sagte, er bleibt hier!« Sisaroth packte das Handgelenk.
»Ohne mich läge er in Splittern! Ich habe ein Recht darauf!« Der Knochenkünstler sah zornig auf Sisaroth herab. »Erlaube es mir. Bitte.«
»Nein.«
»Du musst es mir erlauben! Ich gab ihm seine Gestalt zurück! Er ruft mich zu sich!«
Sisaroth erhob sich, ohne Tossàlors Handgelenk freizugeben. »Dein Verhalten ist nicht hinnehmbar. Du weißt, dass mein Wort Gesetz ist.«
»Ich bin ein Gesetzloser«, konterte Tossàlor und richtete den verlangenden, eindringlichen Blick auf ihn. »Gib mir den Schädel. Ich bitte dich nur einmal noch im …« Rasch biss er sich auf die Lippe.
»Im Guten? Du drohst mir? Wegen des Artekfakts?« Sisaroth verstärkte den Griff um das Gelenk. »Lässt du nicht unverzüglich los, breche ich es dir, und du würdest damit nicht mehr schnitzen können. Möchtest du das?«
»Dafür würde Crotàgon dich umbringen, wenn ich ihn bitte«, giftete Tossàlor ihn an.
»Und selbst am Todesfluch zugrunde gehen.«
»Er würde es dennoch für mich tun. Es könnte zu einem Unfall mit dir kommen. Meines Wissens wird das durch diesen Spruch nicht abgedeckt, wenn du in eine Falle trittst.«
Abgefeimter Verrückter! »Du nutzt ihn aus. Denkst du, das merkt er nicht? Denkst du, das gefällt ihm?«
Tossàlor lachte ihm ins Antlitz. »Und glaubst du, dieser Alb kümmert mich? Er ist nützlich in Situationen wie diesen.« Er sah an Sisaroth vorbei und grinste. »Ah, da bist du! Töte ihn für mich«, befahl er scheinbar ins Nichts.
Verflucht! Sisaroth flog herum, eine Hand zog den Dolch und hielt ihn stoßbereit.
Aber vor ihm stand kein Crotàgon.
Stattdessen erhielt er einen Hieb in den Rücken, dem einen Herzschlag darauf ein brennender, heißer Schmerz folgte und seinen Beinen die Kraft raubte. Wärme ergoss sich in Bächen über Hüfte und Oberschenkel. Aufkeuchend sank er nieder und drehte sich zu Tossàlor, der sich ausschüttete vor Heiterkeit.
»Er hat mir meine Täuschung wirklich abgenommen.« Er hielt ein feines Schnitzmesser in der Hand, das er unbemerkt aus den Falten des Gewands gezogen hatte. »Du bist mir ein Krieger. Du solltest deine Rüstung ständig tragen. Es hätte verhindert, dass ich dir den
Weitere Kostenlose Bücher