Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Aufzeichnungen.«
»Erfundene Geschichten.«
»Teils, teils. Ich befragte jeden Bewohner nach Legenden, nach Märchen, nach wahren Geschichten und schrieb sie nieder, um sie entweder in ihrer urtümlichen Form zu bewahren oder etwas Neues daraus zu formen. Mein Fundus.« Sie lehnte sich zurück, warf das rote Haar nach hinten. »Aber deswegen bist du nicht gekommen. Du möchtest hören, wie sich der Mord zutrug.«
»Es spricht sich herum, was ich tue?« Bedenkt man, dass ich vorhin erst bei Wènelon klopfte, verbreitet sich die Kunde äußerst schnell. Ranôria folgerte daraus: Sie müssen wirklich Angst vor mir und meinen Nachforschungen haben.
Acòrhia nickte. »Ich bin zwar noch nicht Mutter geworden, aber ich verstehe dein Anliegen sehr gut. Würde es ein Mitglied meiner Familie treffen, würde ich alles unternehmen, um es aus Phondrasôn zurückzuholen – sofern die Anschuldigungen falsch wären.« Sie machte ein unglückliches Gesicht. »Darf ich dir einen Tee zubereiten, bevor ich beginne?«
»Du hast keine Sklaven?«
»Sklaven sind teuer, wissen mehr als gut ist und brauchen eine starke Hand«, erwiderte die Geschichtenweberin. »Ich bin allein, und da ist es mir zu anstrengend, auch noch Leibeigene zu überwachen. Lieber erledige ich die anfallenden Arbeiten selbst.« Sie lächelte schwach. »Du bist hier im fünften Ring, Ranôria. Nicht so weit oben wie du.«
»Nein, danke. Keinen Tee.« Sie setzte sich aufrecht. »Da du es weißt, frage ich dich: Berichte mir, was in der Nacht vorgefallen ist. Jede Kleinigkeit, jede Einzelheit möchte ich wissen!« Ich erkenne eine Lüge. Sogar bei dir.
»Es wird dir nicht gefallen.« Acòrhia begann mit ihren Ausführungen, die sich nicht wie eine Zeugenschilderung, sondern wie eine Geschichte anhörten: bis ins Letzte ausformuliert, sodass sie keinerlei Raum für Fragen ließ.
Acòrhia erwähnte sogar die Einlegearbeiten des Prunkdolches, die Geschwindigkeit der Atemzüge von Bruder und Schwester, wann sie schnell und wann langsam sprachen, die Mimik, die Gesten. Sie schaffte das Kunststück, den Ablauf vor Ranôrias innerem Auge entstehen zu lassen, in dem nichts fehlte und alles grausamen Sinn ergab. »Dann riefen wir die Wachen«, schloss sie. »Den Rest kennst du.«
»Ja«, sagte Ranôria abwesend und versuchte, die Bilder in ihrem Kopf verschwinden zu lassen, weil sie ihnen nicht vertrauen und glauben wollte. Ihr Herz weigerte sich noch, aber ihr Verstand flüsterte bereits, dass es sich genau so zugetragen haben musste. »Du hattest recht: Es gefiel mir nicht, was ich vernommen habe.« Sie betrachtete die junge Geschichtenweberin.
»So ist es mit der Wahrheit«, entgegnete Acòrhia mitfühlend. »Sie kann wehtun. Deine Kinder erhielten eine harte, doch gerechte Strafe. Nichtsdestotrotz bedauere ich, dass es so kam. Hätte sich Sémaina zurückgehalten und weder unangebrachten Hohn noch ungerechtfertigten Spott über dich ausgegossen, wären sie und ihre Liebsten noch am Leben.« Sie legte eine Hand gegen die Brust. »Ich sah und hörte dich bei deinem letzten Konzert. Du verstehst es, die Melodien durch das Ohr in die Seele zu senden und sie zu berühren. Dagegen kommen meine Worte und Geschichten kaum an.«
»Ein jeder nutzt das Talent, auf das er sich versteht.« Ranôria sah keinen Hinweis auf eine Lüge oder Furcht in dem zarten Antlitz ihr gegenüber. Soll es die Wahrheit sein? Trug es sich in Tênnegors Haus genauso zu?
Es stach in ihrem Herzen, wenn sie daran dachte, als wollte sie ihr Leib für den Zweifel an ihren Kindern strafen.
Ich darf es nicht glauben! Firûsha könnte das nicht. Niemals! Acòrhia ist eine Lügnerin! Sie wollte bleiben und ihrer Gastgeberin genauer auf den Zahn fühlen. »Ich nehme doch einen Tee.« Sie schauderte und reckte die Hände gegen die kleiner gewordenen Flammen im Kamin. »Es ist für einen Frühling viel zu kalt.«
»Nichts lieber als das. Ich habe belebende Kräuter von einer Freundin bekommen. Sie sammelt sie im Steinbruch und schwört, dass sie nur dort in dieser Reinheit gedeihen. Entschuldige mich.« Acòrhia stand auf und verließ die Bibliothek. »Schau dich gerne um«, rief sie von draußen.
Das werde ich. Ranôria erhob sich und wandelte grübelnd durch das Erdgeschoss, besah sich die Buchrücken, erklomm die Treppe um den Baum und stieg über die Aststiegen hinauf bis in den vierten Stock.
Aus fünfzehn Schritt Höhe sah sie den Schreibtisch und die Schaukel durch das Papierblattdach nicht
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