Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
Sisaroth nur aus Legenden. Es waren die gleichen Legenden, die von Dsôn Faïmon berichteten, von den Hochschulen im Strahlarm Wèlèron, an denen angeblich wahre Magie erforscht wurde. In den seltensten Fällen wurden Albae geboren, die mehr vermochten, als die üblichen angeborenen Kräfte einzusetzen.
»Danke nicht mir. Danke dem Turm«, gab Marandëi zurück. »Phondrasôn spielte dir übel mit, wenn ich mir dich betrachte. Komm mit nach oben. Du sollst essen und trinken, und danach schaue ich, was ich gegen deine Wunden tun kann.« Sie ging voraus. »Es sind einige Stufen zu überwinden. Wird es gehen?«
»Es wird, Cîanai.« Sisaroth fühlte Erleichterung. Die Schmerzen und der Hunger haben ein Ende. Danke, ihr Infamen!
»Cîanai.« Marandëi schmunzelte. »Das ist eine hohe Anrede für eine Albin, die nicht mehr tat, als ein Schloss mit einer Geste zu öffnen.«
»Wie meintest du das: Der Turm hat mich geholt?«
»Wie ich es sagte.« Das metallverstärkte Ende ihres schulterhohen Gehstocks stieß mit leisem Klingen auf den Stein, die angebrachte Lampe pendelte. »Er hätte dich ebenso zu Asche verwandeln können. Er entscheidet, wie er mit denjenigen umgeht, die vor ihn treten.«
Sisaroth begriff nicht. »Aber ich dachte, du hättest …«
Marandëi streckte die freie Hand aus und fuhr damit an der Innenwand entlang. »Er ist meine Heimat. Mein Verlies. Mein Ein und Alles, das du mit mir teilen wirst. Ich nehme an, wir werden es gut miteinander aushalten.«
Sisaroth blieb wie angewurzelt stehen. Sein Widerstand entflammte trotz seiner Entkräftung. »Ich denke nicht daran, dich …«
Sie fuhr herum, ihre fast weißen Augen blickten voller Zorn. »Und ich dachte ebenso wenig daran, in diesem Ding festzusitzen! Es gibt kein Entkommen. Die Mauern widerstanden allem, was ich mir erdachte. So sitze ich hier und harre darauf, gelegentlich Besuch zu erhalten, dem ich irgendwann beim Sterben zusehen darf.« Sie kam eine Stufe nach unten, beugte sich nach vorn, sodass sich ihre Antlitze auf gleicher Höhe befanden. »Ich lebe nicht in diesem Turm, weil es mir so gefällt, Sisaroth. Nein, gewiss nicht. Ich sitze in diesem verfluchten Bauwerk fest!«
Das darf nicht wahr sein. Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Du bist eine Cîanai und nicht in der Lage, dem Kerker zu entfliehen? Das kann ich nicht glauben!«
»Da spricht sie, die Überheblichkeit der Jugend, und weiß doch nicht, was sie spricht.« Die Metallspitze prallte mit Wucht gegen den Stein. Das harte, kalte Geräusch unterstrich ihre Maßregelung. »Ich bin am Ende meiner Weisheit. Aber ich mache dir einen Vorschlag, junger Heißsporn: Solltest du einen Weg finden, der uns beide aus der Trostlosigkeit befreit, werde ich dir folgen und fünf Teile der Unendlichkeit jeden Wunsch erfüllen, sofern ich es vermag.« Marandëis harte Züge entspannten sich. »Aber zuerst kümmern wir uns um deine Wunden. Du wirst deine Kraft brauchen. Ach, bevor ich es vergesse: Der Turm ist nachtragend und vergisst nicht, wer ihm Böses will. Du wirst mit Vergeltung rechnen müssen. Bislang strafte er jeden meiner Versuche, aus ihm zu entfliehen.« Sie wandte sich um und setzte den Aufstieg fort.
Sisaroths Gedanken schwirrten, während er ihr folgte. »Weißt du, wer ihn errichtete?«
»Ein Alb, schätze ich. Die Runen sagen mir, dass er vor langer Zeit am Werk gewesen ist. Er verwandte einen Schriftdialekt, der nicht mehr in Dsôn Faïmon benutzt wird. Und er muss reichlich verrückt gewesen sein, eine derart aufwendige Falle zu ersinnen.« Marandëi hatte eine Tür erreicht, die vor ihr aufschwang. Sie vergewisserte sich, dass Sisaroth ihr dicht auf den Fersen blieb. »Es beginnt damit, dass wir von einem magischen Kraftfeld umgeben sind, mit dem sich der Turm selbst versorgt. Du sahst die Streben, die in den Berg führen?« Er nickte. »Sie fungieren als Leitungen. Das Gebäude hat somit unendlich viel Energie zur Verfügung, die sich niemals erschöpft.«
Er überlegte blitzschnell. »Es sei denn, das Feld würde versiegen.«
Marandëi lachte verdrossen. »Darauf warte ich seit Teilen der Unendlichkeit. Darauf solltest du nicht spekulieren.«
Sisaroth entsann sich der zerstörten Runen an der einen Säule. Er erzählte der Albin von seiner Entdeckung. »Mag es sein, dass darin die Ursache liegt, weswegen uns der Turm nicht mehr freigeben kann oder will?«
Sie sah neugierig aus. »Möglich. Darüber sprechen wir später. Erst kümmern wir uns um dich.«
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