Die Legenden der Albae: Dunkle Pfade (German Edition)
ihn an jenem Abend derart rasend gemacht hatte, um in Sémainas kleine Gesellschaft hineinzuplatzen.«
Ranôria schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »Die Infamen werden mir beistehen.« Sie stellte den Becher auf das Tischchen und erhob sich, warf sich den Umhang über, der am Feuer getrocknet war. »Es ist spät, und ich möchte mit meinen Nachforschungen gleich beginnen.«
»Der Statthalter wird deinen neuen Vermutungen sicherlich aufgeschlossen gegenüber sein.« Acòrhia stand ebenfalls auf, um ihren Gast zur Tür zu begleiten. »Meine guten Gedanken begleiten dich.«
Mit einer Geste verdeutlichte Ranôria, dass sie allein hinausfand. »Wir sehen uns bald wieder. Ich werde mir deinen nächsten Auftritt sicherlich nicht entgehen lassen«, verabschiedete sie sich und ging hinaus, schritt durch den Korridor und verließ das Haus.
Ihr waren durch den Besuch mehrere Dinge klar geworden.
Acòrhia hat mich angelogen. Sie war es, die sich die Geschichte des Mordes ausdachte und sie den anderen gab, damit sie das Gleiche aussagten.
Ranôria stützte ihre Annahme auf eine entscheidende Beobachtung: Die Geschichtenweberin hatte ihr weder ihre Hilfe bei der Auflösung des Rätsels angeboten noch sich sonderlich überrascht gezeigt, als sie von den neuen Theorien vernahm. Schon von Berufs wegen müsste sie sich als Freiwillige andienen, um auf des Rätsels Lösung zu kommen und daraus eine neue Begebenheit zu machen, die sie verbreiten konnte.
Genau das tat sie jedoch nicht und verhielt sich auffallend ruhig.
Sicher konnte man daraus Desinteresse ableiten, aber Acòrhia sprach sofort von einem Hintermann. Einzahl, männlich.
Sie ist deswegen gelassen geblieben, weil sie sieht, dass ich mich auf eine Spur hefte, die sie nicht betrifft. Ranôria eilte durch die Gassen des fünften Rings und strebte zum Aufzug, um nach Hause zurückzukehren. Acòrhia weiß mehr. Viel mehr. Das werde ich herausfinden.
Sie hatte viel erfahren und viel Neues zu prüfen, um den Schuldigen auszumachen und ihn anstelle ihrer Kinder nach Phondrasôn zu senden.
Ranôria würde ihre Freunde aufsuchen und sie bitten, ihr zu helfen: Beschattungen, Nachforschungen, Gerüchte sammeln und streuen. Sie selbst würde sich an Acòrhias Fersen heften, sobald sie ihre Besuche der verbliebenen Zeugen beendet hatte.
Jeden ihrer Schritte werde ich beobachten! Früher oder später würde die junge Geschichtenweberin Kontakt zu dem aufnehmen, für den sie die Geschichte des Mordes erdacht hatte. Den rücksichtslosen, durchtriebenen Auftraggeber. Wenn ich ihn ausmache und stelle, ist das Rätsel um Sémainas Tod gelüftet.
Ranôria erreichte die Aufzugtrasse und betätigte den Hebel, um eine Plattform zu rufen.
Der Regen hatte aufgehört, Nebelschwaden stiegen aus den Ringen auf und mischten sich mit dem Rauch aus den Kaminen der Gebäude. Die oberen Ringe, der Wall und die Gebirgsgipfel lagen verborgen im Dunst, als gäbe es sie überhaupt nicht.
Ranôria machte derweil Pläne.
Der Nächste, den sie besuchen wollte, war Nomirôs, ein entfernter Nachbar von ihr. Gegen ihn hielt sie ein Druckmittel in der Hand, das ihn zum Sprechen bringen konnte. Das erledige ich gleich. Sie betrat die Gondel, die vor ihr anhielt. Dann habe ich heute viel erreicht.
Ranôria wurde unvermittelt angerempelt und prallte gegen die Kabinenwand.
Ein Alb in einem langen, alles verhüllenden Wollmantel drängte sich herein. »Verzeihung«, murmelte er und wandte sein Gesicht ab, als wollte er es vor ihr verbergen. Ihm folgte sogleich ein gerüsteter Gardist, dessen Miene hinter dem Visier seltsam starr und ausdruckslos wirkte; die rechte Hand lag um den Schwertgriff, die Knöchel standen weiß hervor.
Merkwürdig. Ranôria rückte in eine Ecke, damit sie niemandem den Rücken zuwenden musste. Ihre beiden Mitfahrer waren ihr nicht geheuer. Ich sollte lieber die nächste …
Doch zum Aussteigen war es zu spät. Knarrend fuhr die Plattform los.
Mitten in den Nebel hinein.
So suchten sich
die Jungen Götter ihre Pfade
durch die Dunkelheit.
Getrennt voneinander,
aber in Herz und Seele verbunden.
Die Fügung wollte es,
dass sie andere Albae an diesem Ort fanden.
Und rate, was daraus wurde:
Freundschaft oder Verrat?
Begierde oder Liebe?
Zukunft oder Tod?
Aus dem Epos »Junge Götter«,
aufgezeichnet von Carmondai, dem Meister in Bildnis und Wort
Phondrasôn, 5427. Teil der Unendlichkeit (6241. Sonnenzyklus), Frühling
Tirîgon tauchte unter
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