Die Legenden der Albae - Vernichtender Hass

sich gegen die glatt geschliffene Wand, schloss die Augen und rief sich
die Zusammenkunft in Erinnerung. Jeder von ihnen hatte eine Aufgabe erhalten,
die sonst niemand seines Volkes besser erledigen konnte. Ich
kenne alle.
    Carmondai
hätte mit den Reisevorbereitungen beginnen und Listen aufstellen müssen, was er
an Material benötigte. Stattdessen verlangte die Eingebung von ihm, sich
künstlerisch zu betätigen: Das Bild, wie Horgàta aus dem Kelch trank, ging ihm
nicht mehr aus dem Sinn.
    Sie sah unvergleichlich aus! Er hob die Lider, nahm Stift
und Papier, um zu zeichnen. Eher würde er keine Ruhe finden.
    Mit
jeder Handbewegung versank er mehr in seinem Tun. Bald wechselte er von Stuhl
und Tisch auf die unbequeme Pritsche, rieb an den Strichen, verbesserte sie,
begann von Neuem, bis das Gesicht der Albin vor ihm entstanden war. Lächelnd
nippte sie am Pokal.
    Das wird sich unglaublich gut verkaufen. Carmondai
positionierte das Bild aufrecht und erhob sich, entfernte sich mehrere
Schritte, um die Wirkung zu ergründen . Ja, das kann sich sehen
lassen. Bildnisse von Heldinnen werden begehrt sein und meine leere Kasse
füllen.
    Er
ging zum Tisch und trank einen Schluck Wasser aus dem Becher, den er seit
geraumer Zeit nicht mehr angerührt hatte. Dabei sah er sich um.
    Die
Kammer reichte von der Höhe her gerade eben für ihn, aber die Einrichtung war
zu klein. Seine Beine würden mit den Unterschenkeln aus dem Bett ragen,
weswegen er sich mit dem Gedanken anfreundete, sich das Nachtlager auf dem
Boden einzurichten. Die Felsplatten unter ihm waren nicht kalt, er würde nicht
frieren. Sein weniges Gepäck hatte er in eine Ecke gestellt.
    Ich vermisse mein Haus jetzt schon. Hoffentlich finden sich in
Tark Draan größere Behausungen als diese hier. Carmondai stellte den
Becher ab – und entsann sich urplötzlich, dass er eine Verabredung hatte. Verflucht. Er warf der gezeichneten Horgàta einen kurzen
Blick zu, packte seine Kladde und rannte hinaus. Aber sie
war es wert.

    Carmondai
eilte zum vierten Mal denselben Korridor entlang und musste sich eingestehen, dass
er sich ohne einen kundigen Führer hoffnungslos im ausgehöhlten Gebirge
verlaufen würde.
    Unter
freiem Himmel fiel es ihm leicht, sich zu orientieren, aber die Gänge waren für
seine Augen allesamt gleich, und sogar die Reliefs und Steinmetzarbeiten schienen
sich zu wiederholen.
    Immerhin
hatte ihm sein Umherirren das zweifelhafte Vergnügen beschert, heimlicher
Beobachter einer Óarcofeier zu werden. Von einer Art natürlicher Balustrade
herab hatte er im Vorbeigehen verfolgt, wie sich die Verbündeten benahmen,
sobald sie sich dem Alkohol hingaben. Das Bier der Unterirdischen schien ihnen
zu munden, und es war wohl auch recht stark gebraut. Diese Feier hatte nichts
mit den vornehmen Festlichkeiten der Albae gemein gehabt. Überhaupt nichts.
Besoffene lagen unter den Tischen, man prügelte sich unter den Anfeuerungsrufen
der Umstehenden, die Weibchen spreizten bereitwillig die Beine für den Sieger
und ließen sich nehmen, und andere stahlen mehr oder weniger heimlich Schmuck
von Schlafenden. Quäkende Trombonen und meckernde Krummhörner, Pauken und
Trommeln erzeugten einen dämonischen Lärm, den man nicht mal im Ansatz Musik
nennen durfte. Der Gestank in dieser Höhle war fürchterlich gewesen. Ich rieche sie immer noch.
    Carmondais
Verachtung für die grünhäutigen Scheusale war ins Himmelhohe gestiegen. Seine
Zeichnungen würden den Albae zu Hause vor Augen führen, dass man froh sein
konnte, diese Bestien aus Ishím Voróo herausgelockt zu haben.
    Verfluchte Unterirdische! Sie haben die Stollen mit Absicht so
angelegt, dass man sich darin verirrt. Carmondai gelangte an eine
Kreuzung, die er bereits zu kennen glaubte. Dieses Mal bog er in den zweiten
Tunnel, allerdings mehr aus Verzweiflung denn aus Überzeugung.
    Eigentlich
war er auf der Suche nach Arviû, um ihn über die Kunst des Bogenschießens zu
befragen. Sollte es ihm jedoch nicht bald gelingen, sich den Weg zu merken,
würde sein Treffen ausfallen. Lange würde der Meisterschütze nicht mehr im
Grauen Gebirge sein. Wer weiß, wann ich ihn dann erneut
sehe? Ich muss mich sputen.
    Carmondai
verfiel in einen leichten Dauerlauf.
    Nach
wie vor hatte er keinen Ersatz für sein verendetes Pferd gefunden. Niemand
wusste, dass er keinen Nachtmahr besessen hatte. Die Geschichte war