Die Legenden der Albae - Vernichtender Hass
immer undeutlicher, und sie konnte nicht anders,
als auf die Finger der Elbin zu starren und zu lauschen.
Das
Lied erzählte ganz ohne Worte eine Geschichte. Ossandras eigene Vorstellungskraft
schuf Bilder vor ihrem inneren Auge. Für sie berichtete die Melodie von einem
Mann und einer Frau, die einander liebten. Dann erschien ein schrecklicher
Krieger, der einen Drachen mit sich führte und verlangte, dass die Frau ihm
folgte. Aber der Mann versammelte Freunde, mit denen er gemeinsam zur Burg des
Bösewichts zog und â¦
Das
Lied endete mit einem letzten, vibrierenden Ton, der zu Tränen rührte.
»Nein«,
rief Ossandra enttäuscht. »Ich muss wissen, wie der Kampf endet! Sie sollen
doch in Frieden miteinander leben und viele Kinder haben und â¦Â« Sie hörte
Stimmen um sich herum, sah sich um.
Der
Platz rund um den Brunnen war zum Bersten mit Einwohnern gefüllt! Das
Flötenspiel der Elbin hatte sie von den Feldern gelockt und aus den Häusern
getrieben. Aus Neugier waren sie gekommen, und vor Faszination waren sie
geblieben. Mit abwesenden, verzückten Gesichtern sahen sie Horgà ta an. Nach und
nach kehrten ihre Gedanken in die Gegenwart zurück, wie Ossandra sah. Und sie
schienen alle so betrübt zu sein wie sie.
Horgà ta
setzte das Instrument ab. »Es freut mich, dass es euch gefiel.« Sie nahm einen
Schluck frisches Wasser aus ihrer hohlen Hand, während die Menschen, jung und
alt, begeistert Beifall spendeten. Mit einem eleganten, mühelos wirkenden
Sprung begab sie sich auf die Einfassung des Brunnens, damit sie von allen
gesehen wurde. »Ihr freundlichen Barbaren von Mühlenstadt!«, rief sie und
erinnerte dabei an die Ausrufer des Königs. »Ich bin Horgà ta, und ich bin einen
langen Weg bis zu euch gekommen, um euch mit einer Aufgabe zu betrauen, die
sonst niemand in eurer Heimat bewerkstelligen könnte.« Sie zeigte mit der Flöte
hinauf zum Steinbruch. »Ein Heer meines Volkes muss in eurer Kaverne
Unterschlupf finden. Geheim und abgeschottet vor den Blicken eines jeden â ob
Mann, Frau oder Kind â, der nicht in eure Stadt gehört.«
Ossandra
fand, dass es an der Zeit war, ihren Vater zu holen. Sie bahnte sich einen Weg
durch die Menge, eilte durch die Gassen, bis sie ihr Zuhause erreichte.
»Vater!«,
rief sie, schon als sie zur Tür hineinrannte. »Vater, komm schnell! Da ist eine
Elbin!« Sie fand ihn in seinem Ratszimmer, wo er Papiere ordnete und einen Berg
Münzen vor sich gestapelt hatte. Die Abgaben für die Zehntsammler des Königs.
»Sie heiÃt Horgà ta, und sie hat Flöte gespielt â¦Â«
Er
hob den Finger, und sie verstummte. Ossandra kannte die Geste, und sie
bedeutete: Gib mir ein wenig Zeit, dann bin ich bei dir.
Es
fiel ihr schwer, den Mund zu halten, daher tippelte sie auf der Stelle, was ihr
einen rügenden Blick einbrachte.
»Was
hast du dir denn wieder ausgedacht, Tochter?«, fragte ihr Vater schlieÃlich mit
seiner beruhigend klingenden Stimme.
»Die
Elbin ist nicht ausgedacht. Sie ist da, am Brunnen! Und sie spielt so herrlich
Flöte, dass die Leute â¦Â« Ossandra ging zum Fenster und stieà es auf. Daraufhin
hörte man auch im Raum deutlich die Rede der Elbin und das Gemurmel der
Menschen. Viele Schritte eilten am Haus vorbei, die zum Mittelpunkt der
Siedlung strebten.
Ossandras
Vater erhob sich und kam zu ihr, blickte nach drauÃen und sah, wie viele
Menschen auf den Beinen waren. »Warum sagt mir denn keiner was?«, grummelte er
und gab seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. »Wie gut, dass ich dich habe.«
Er nahm die Bürgermeisterkette vom Haken neben der Tür, setzte sich eine
federnbesetzte rote Kappe auf und warf sich die dunkle Amtsrobe über.
Gemeinsam
mit Ossandra ging er zum Brunnen, wo Horgà ta noch immer sprach. Vater und
Tochter wurde Platz gemacht.
»Mein
Vater ist da!«, rief Ossandra und schob ihn vor sich, was er mit einem Lachen
quittierte.
Die
Augen der Elbin richteten sich auf ihn. »Ah, du bist verantwortlich für Gedeih
und Verderb von Mühlenstadt?«
»Mein
Name ist Welkar Ilmanson. Und ich fühle mich geehrt und bin zugleich
überrascht, eine Elbin in unserer Stadt begrüÃen zu dürfen. Die Wesen des
Lichts haben sich noch nie bei uns blicken lassen.«
Sie
reichte ihm die Hand und zog ihn zu sich auf die Brunneneinfassung. »Ich sagte
den
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