Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)

vom Schatz ab.«
    Er nahm sich eine Handvoll Brombeeren von einem großen Haufen, der auf seinem Hemd im Gras lag. Vermutlich hatte er sie von einem Strauch in der Nähe gepflückt und sein Hemd ausgezogen, um es als Beutel zu benutzen. Er bedeutete mir mit einer Geste, mich ebenfalls zu bedienen.
    »Was isses denn?«, fragte er, den Mund voller Beeren.
    »Was?«
    »Der Schatz.«
    »Oh … Weiß ich auch nicht genau.«
    »Irgendwas wirste doch wohl wissen.«
    »Er hat was mit den Eingeborenen zu tun. Vor hundert Jahren gab es da einen Herrscher, ich hab den Namen vergessen. Sie nannten ihn den Feuerkönig –«
    Guts gab ein seltsames würgendes Geräusch von sich und nach einer Weile merkte ich, dass er lachte. »Was?«
    »Der Feuerkönig? Aber sonst geht’s noch!«
    »Was?«
    »Das is Quatsch! Den gibt’s nich!«
    »Woher willst du das wissen?«
    »Wie, haste nie die Witze gehört?«
    »Nein. Welche denn?«
    »Zum Beispiel … Wenn ein Pirat das Maul aufreißt, so nach dem Motto ›Ich schlag die ganze Mannschaft beim Beinhakeln‹, antwortet der andere: ›Klar, und noch ’ne Karte dazu und du findest den Schatz vom Feuerkönig.‹ Oder er sagt: ›Mit zehn Kanonen mehr wären wir besser bewaffnet als Burn Healy‹, und der andere sagt: ›Klar – und wenn ich den Schatz vom Feuerkönig hätte, könnt ich mich zur Ruhe setzen.‹ Es ist ein Witz!«
    »Es ist kein Witz. Die Sprüche bestätigen nur, dass der Schatz wertvoll ist. Sie bedeuten nicht, dass es ihn nicht gibt.«
    »Doch, natürlich.«
    »Wenn das alles ein Witz ist, warum ist meine Familie dann tot?«
    »Was weiß ich. Wie sind die denn gestorben?«
    Ich erzählte ihm die ganze Geschichte von Anfang an, als Dad den Berg herunterkam und so komisch war, bis zum Ende, als Birch versuchte, mich von der Klippe zu stoßen. Nachdem ich zu Ende erzählt hatte, lachte Guts nicht mehr.
    »Scheint wirklich was auf diesem Land zu liegen«, sagte er. »Gibt doch sonst überhaupt keinen Sinn.«
    »Was erzählen sie denn so über den Schatz des Feuerkönigs?«
    »Wer?«
    »Alle. Die Männer, die Witze darüber reißen. Was erzählen die, was der Schatz genau ist?«
    »Weiß nich. Bloß … dass er groß ist.«
    Dann kniff er die Augen zusammen, bis sie nur noch zwei Schlitze waren. Als würde er angestrengt über etwas nachdenken.
    »Und noch was: dass er … auch magische Kräfte hat.«
    »Welche Art von magischen Kräften?«
    Er dachte noch angestrengter nach.
    »Tötungszauber … die Macht der Götter.«
    »Und wie geht der?«
    »Weiß nich.«
    Etwas, das mir bisher nicht eingeleuchtet hatte – nämlich, wenn Pembroke schon reich war, warum sollte er so viel Ärger auf sich nehmen, bloß um noch reicher zu werden? –, wurde mir plötzlich um einiges klarer.
    Es ging ihm nicht nur um den Schatz. Sondern um die Macht.
    Doch Guts schüttelte den Kopf. »Blödsinn.«
    »Warum denn?«
    »Hätte der Feuerkönig magische Kräfte gehabt … dann hätt er nich verlor’n.«
    »Wer sagt, dass er verloren hat?«
    »Schon mal einen Eingeborenen gesehen?«
    »Nicht aus der Nähe. Bloß aus der Ferne. Bei der Arbeit in den Silberminen auf Morgenröte.«
    »Genau. Ein Haufen Sklaven.« Guts schüttelte den Kopf und zuckte angewidert.
    »Schwer zu sagen, ob sie Sklaven sind«, sagte ich und dachte an Pembrokes Kommentar, dass Sklaverei verboten sei.
    »Aber nich viel besser.« Er zuckte mit den Achseln. »So viel zum Thema Magie.«
    Von einer verdeckten Stelle oben auf dem Bergrücken beobachteten wir, wie das Schiff anlegte – zwei der Männer von der Insel, die aus der Entfernung nicht größer als Ameisen aussahen, gingen zum Boot und banden die Taue fest, die von der kleinen Mannschaft auf den Kai geworfen wurden. Anschließend verließ die Besatzung das Boot und verschwand in einem der Wirtschaftsgebäude.
    Eine Stunde vor Sonnenuntergang kamen einige der Männer wieder heraus und gingen zu den Pferchen, wo die Schweine sich als wuselnder rosa Haufen um etwas drängten, das vermutlich ihre Futtertröge waren. Dann kehrten die Männer wieder in das Gebäude zurück. Im Haupthaus stieg Rauch aus dem Schornstein auf.
    Sobald es ruhig geworden war, schubste ich Guts an. Mittlerweile war die Sonne untergegangen.
    »Sollen wir uns auf den Weg machen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir bloß länger im Schiff warten.«
    Wir blieben also, wo wir waren, nickten von Zeit zu Zeit ein, bis Guts mich schließlich mitten in der Nacht wach rüttelte und wir