Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
hätte nicht eine Stimme hinter uns mir einen Riesenschreck eingejagt, hätte ich es vielleicht sogar getan.
»Seid ihr Jungs vom Boot?«
Ich schnellte herum. Ungefähr einen halben Meter vor der untersten Stufe stand ein untersetzter, kahlköpfiger Mann in der teuren Leinenjacke eines wohlhabenden Bewohners von Morgenröte. Er musterte uns im Mondlicht und schien verwirrt.
Ich wäre auf der Stelle abgehauen, aber um die Treppe herunterzukommen, hätte ich mit weniger als einer Armlänge Abstand an ihm vorbeirennen müssen. Während ich die Veranda nach dem besten Fluchtweg absuchte, redete er mit freundlicher, beruhigender Stimme weiter.
»Du brauchst keine Angst zu haben, mein Sohn. Du bist jetzt in Sicherheit. Hier gibt es keine Piraten. Ihr seid gerade erst an Land gekommen, oder?«
Er lief mit schwankendem Schritt auf die Treppe zu, und während ich ihn beobachtete, gingen mir mehrere Dinge gleichzeitig durch den Kopf – dass er ein bisschen angetrunken war, dass er uns nichts Böses wollte, sondern offensichtlich hilfsbereit war und dass er uns für Passagiere der Irdischen Freude zu halten schien.
»Ihr seid doch bestimmt hungrig. Und braucht was zum Anziehen. Warum kommt ihr nicht mit mir? Ich gebe euch –«
Genau in diesem Moment sah ich aus dem Augenwinkel etwas durch die Luft sausen und frontal gegen seine Stirn segeln, was ein heftiges KLONK-Geräusch verursachte, dem ein wesentlich heftigeres WUMM folgte, als der birnenförmige Körper des Mannes rückwärts auf die Straße kippte.
Während sich der schwere Messingspucknapf ein paar Meter entfernt scheppernd um sich selbst drehte, kam Guts mit einem zufriedenen Lächeln auf mich zu.
»Volltreffer, was?«
»Was sollte das denn?!«, zischte ich.
»Hab uns gerettet!«
»Wovor denn? Davor, dass er uns Essen und Klamotten gegeben hätte?«
»Quatsch! Der hätte uns hundertprozentig aufgeknüpft.« Er beugte sich vor und hob sein Messer auf, das er auf den Boden gelegt hatte, um den Spucknapf zu schleudern. »Schnell, durchsuch seine Taschen.«
Ich legte mir gerade die Worte zurecht, um meinem Ekel darüber Ausdruck zu verleihen, dass er den armen Mann ausrauben wollte, als ein Schrei vom Ende der Straße dafür sorgte, dass wir uns umdrehten. Die Männer aus dem Bunten Pfau kamen – von dem Tumult angelockt – auf uns zu, zwei von ihnen im Laufschritt. Mit dem bewusstlosen Mann zu unseren Füßen blieben uns nicht viele Möglichkeiten.
Wir sprangen mit einem Satz von der Treppe und verschwanden auf dem kürzesten Weg außer Sichtweite, indem wir scharf links in die Gasse zwischen dem Kleidergeschäft und dem Nachbargebäude einbogen. Wir rannten volle Pulle, zu sehr in Panik, um uns Gedanken über den Lärm zu machen, den wir verursachten, und als wir über die erste Parallelstraße zur Himmlischen Straße rannten, schien uns jeder Hund in der Stadt hinterherzukläffen.
Erst als wir ein paar Ecken weiter am anderen Ende der Stadt den Waldrand erreichten, drehte ich mich um. Es waren zwar keine Verfolger mehr zu sehen, trotzdem rannten wir immer weiter, bis das Gebell verstummte und wir uns trauten, stehen zu bleiben und zu überlegen.
»Warum hast du was nach ihm geworfen? Er hätte uns helfen können!« Ich war immer noch wütend.
Guts schüttelte den Kopf, lange, verfilzte Haarsträhnen hingen ihm über das grimmig verzerrte Gesicht. »So einer hilft doch Leuten wie uns nie.«
»Doch, hätte er! Er hat uns für Reiche gehalten! Vom Boot.«
»Ja? Was meinste, wie lange er gebraucht hätte, um herauszufinden, dass du der Mörder bist?«
Das war ein Argument. Aber mir gefiel das Wort nicht.
»Ich bin kein Mörder«, sagte ich ruhig.
Sein Gesicht zuckte. »Klar biste das.«
»Es ist nicht Mord, wenn zuerst ein anderer versucht, einen umzubringen.«
»Doch, isses.«
»Nein, ist es nicht!«
»Wie willst’n das sonst nennen?«
Ich überlegte einen Augenblick. »Das ist eine Grauzone.«
»Was is ’ne Grauzone?«
»Das ist, wenn etwas weder schwarz noch weiß ist. Sondern beides. So wie Menschen nicht nur gut oder böse sind. Sie sind von beidem ein wenig.«
»Stimmt nich.«
»Wie, jeder auf der Welt ist entweder total gut oder total böse? Nichts dazwischen?«
»Ja.« Er nickte.
»Und was sind wir dann?«
Er schwieg eine Weile und ich glaubte schon, die Diskussion gewonnen zu haben. Doch dann kam seine Antwort.
»Wir sind böse.«
Ich schnaubte. Er war nicht nur einfach blöd. Er machte mich wütend.
»Wenn wir böse
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