Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Lehrerinnen lernen lassen musste, damit sie ihr Potenzial entwickeln und, noch wichtiger, damit sie überleben konnte.
Doch die Kollegien gierten nach Lyannas Macht, und wenn sie die nicht bekommen konnten, dann musste das Mädchen getötet werden. Dordover, Eriennes eigenes Kolleg, hatte sich mit den Hexenjägern verbündet, um sie und Lyanna zu finden und umzubringen. Xetesk hatte ihr Unterstützung versprochen, doch die Motive hatten wenig mit Eriennes Wünschen und viel mehr mit der Gier nach Macht und Wissen zu tun gehabt.
Schließlich, als der Sieg zum Greifen nahe war, als der Rabe beinahe schon triumphiert hatte, war ihr das wunderschöne,
tanzende kleine Kind durch den allerschlimmsten Verrat weggenommen worden. Die Al-Drechar, ausgerechnet sie, hatten beschlossen, dass Lyanna sterben musste. Sie waren zu der Ansicht gelangt, dass Lyannas kleiner Körper die Eine Magie nicht aufnehmen konnte, die in ihm wuchs. Sie hatten beschlossen, dieses Wesen, das unabhängig von ihrer Tochter existierte, in Eriennes Geist zu verpflanzen und das Kind zu töten.
Erienne blickte zu den Trümmern des Hauses hinüber. Zwei Al-Drechar lebten noch. Elfenhexen, die eigentlich tot sein sollten, die jetzt aber vom Raben beschützt wurden. Sie wusste, warum, und manchmal gestand sie sich sogar ein, dass es richtig war, doch sie hasste alle dafür.
Plötzlich bekam sie starke Schuldgefühle und brach mitten im Lied ab. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Niemanden hasste sie mehr als sich selbst. Schließlich war alles, was sich ereignet hatte, eine unmittelbare Folge ihrer eigenen Wünsche gewesen. Bei den Göttern, sie hatte damals sogar mit Denser geschlafen, um ein Kind zu empfangen, das vielleicht das Potenzial hatte, die Eine Magie zu entwickeln.
Alles war nach Plan verlaufen, doch das Eine hatte sich als zu stark erwiesen, als zu chaotisch. Man konnte es nicht kontrollieren. In Dordover hatte man den Fehler begangen, die Magie in einem Bewusstsein zu erwecken, das zu jung war, dass es damit umgehen konnte. Deshalb war Erienne nach Herendeneth geflohen. Doch ihre eigene Sünde wog noch viel schwerer. Viel zu lange hatte sie die Tatsache ignoriert, dass sie es nicht nur mit dem Erwachen einer uralten magischen Begabung zu tun hatte, sondern auch mit einem kleinen Mädchen. Sie hatte wie gebannt auf Lyannas Potenzial geschaut und vergessen, dass sie ein Kind vor sich hatte. Niemand, nicht einmal
ihre Mutter, hatte Lyanna die Chance gegeben, sich frei zu entscheiden.
Erienne brach weinend zusammen, sie schlug die Hände vors Gesicht und wiegte sich in ihrem Kummer hin und her. Hass und Liebe durchfluteten sie und zerstörten jeden zusammenhängenden Gedanken. Bilder von Lyanna, die durch den Obstgarten sprang, überlagerten jene von ihrem winzigen, bläulich verfärbten Körper, der reglos auf dem Küchenboden lag. Sie hörte Lyanna in ihrem Kopf, hörte ihr Lachen und ihre unschuldigen Fragen. Sie konnte den Körper ihres Kindes riechen, sauber nach einem Bad, und die Liebe in den wundervollen Augen sehen, die bedingungslos vertrauend strahlten. Verraten.
Sie atmete schwer und schluchzte, ihre Lippen bebten, und ihre Kehle wurde eng vor Kummer. Nichts konnte Lyanna zurückbringen. Nichts konnte die Qualen heilen, die Sehnsucht und den Verlust. Eriennes einziger Trost war, dass Lyanna nun bei ihren ermordeten Söhnen war. Ihre wundervollen Zwillinge, vor langer Zeit gestorben, aber nie vergessen. Wenigstens war Lyanna nicht allein.
Erienne spürte eine Hand auf ihrer Schulter. Denser hockte sich schweigend neben sie.
»Geh weg«, zischte sie.
»Nein, Liebste«, sagte er leise, aber entschlossen. »Lehn dich an.«
»Du kannst mir nicht helfen«, sagte sie. Jeden Tag war es das Gleiche. Die Worte waren anders, aber die Bedeutung änderte sich nicht. »Lass uns in Ruhe.«
»Nein, das werde ich nicht tun«, beharrte Denser. »Ich habe versprochen, dich nie zu verlassen. Lass mich ein in das, was dich bewegt. Versuche es.«
Erienne schüttelte den Kopf. Sie war zu müde, um zu widersprechen. Wenigstens hatte sein Erscheinen für den
Moment den Tränenfluss aufgehalten. Sie wischte sich mit dem Handrücken das Gesicht ab und nahm das saubere Tuch entgegen, das Denser ihr in die linke Hand drückte, um sich auch die Augen zu trocknen.
»Danke«, sagte sie.
»Gern geschehen«, erwiderte er. »Ich bin immer da, wenn du mich brauchst.«
Denser rückte etwas näher an sie heran und legte den Arm um ihre Schultern.
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