Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Erienne verkrampfte sich, sie wollte ihn wegstoßen, doch sie konnte nicht. Sie hasste ihn, weil er sich weigerte, die Al-Drechar genauso unerbittlich zu verurteilen wie sie selbst, doch sie liebte ihn für seine unerschütterliche Kraft. So saßen sie schweigend beisammen und starrten das Blumenbeet an, das sanft vom warmen Wind gezaust wurde.
Es gab nichts zu sagen. Eines Tages würde sie vielleicht auch seinen Kummer anerkennen. Doch im Augenblick konnte sie nicht einmal ihren eigenen bewältigen.
Es pochte in ihrem Kopf. Wie jeden Tag versuchte sich das Eine durchzusetzen und wollte Einfluss auf ihr Bewusstsein nehmen. Doch es war nicht stark genug, und sie lächelte zufrieden, weil es sie nicht so beherrschen konnte, wie es, von ihnen allen gebilligt, Lyanna beherrscht und dann vernichtet hatte.
Erienne wusste, dass diese Kraft nicht intelligent war, es war nur ihr Unterbewusstsein, das mit dieser Macht in Berührung gekommen war, die sie zu gleichen Teilen verlockend und abscheulich fand. Sie stellte sich vor, sie litte an einer Krankheit, an einer Art Krebs, die sie nicht zerstören, sondern nur unterdrücken und ihrem Willen unterwerfen konnte. Sie wusste, dass sie sich, wenn sie ihre Barrieren fallen ließ, einer Macht öffnen würde, die sie vielleicht nicht mehr kontrollieren konnte. Und sie
wusste, dass sie, wenn sie es tat, mit den Al-Drechar reden musste, weil sie ohne deren Hilfe nur ihren eigenen Untergang beschleunigen würde.
Es hatte Phasen gegeben, in denen sie den Tod einem Leben ohne Lyanna vorgezogen hätte. Irgendetwas in ihr hatte sie davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen. Tief in ihrem Innern glaubte sie an das Eine. Sie konnte sich nur noch nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass sie selbst jetzt die letzte Hoffnung dieser Kraft war. Eines Tages würde sie es akzeptieren müssen. Doch dies würde zu ihren eigenen Bedingungen geschehen. Keine Elfenhexe und kein xeteskianischer Magier konnte sie unter Druck setzen.
In ihr schlummerte die lebendige Kraft des Einen. Sie sollte nicht dort sein, aber sie war da. Und diese Kraft erinnerte sie jede Sekunde eines jeden Tages daran, dass Lyanna geopfert worden war, damit sich das Eine in ihr ansiedeln konnte. Wie so vieles andere hasste und liebte sie diese Kraft mit gleicher Inbrunst. Momentan, und vielleicht sogar für immer, behielt der Hass jedoch die Oberhand.
Die Verwirrung verstärkte noch das Pochen in ihrem Kopf.
Sie drehte sich zu Denser um. Sein Bart war gestutzt, das schwarze Haar sauber und kurz geschnitten, Wangenknochen und Kinn waren markant und sehr attraktiv. Er betrachtete das Blumenbeet auf dem Grab, Tränen rannen zu beiden Seiten seiner Hakennase über sein Gesicht.
Einen Herzschlag lang wollte sie seine Tränen wegküssen. Doch in diesem Augenblick überkam sie wieder der Kummer, und sie verkroch sich abermals in ihrem Albtraum.
Viertes Kapitel
Rebraal kehrte nach zwei starken Regengüssen zum Tempel zurück. Auf jeden Schauer war dampfende Hitze gefolgt, sobald die Sonne sich wieder durch die Wolken drängte. Er konnte sich vorstellen, wie die Fremden in Deckung gingen, sobald Tropfen fielen, die so groß waren wie sein Daumen, und alle Feuer löschten, auf die Zeltplanen trommelten und durch jede lockere Naht und jeden Saum einen Weg fanden.
Der Anführer der Al-Arynaar hatte unterdessen den besten Schutz gesucht, den er finden konnte, und sich unter die breiten grünen Blätter der Bäume zurückgezogen. Dort hatte er den Geräuschen des Regens im Wald gelauscht. Kleine Tiere huschten in ihre Baue und Löcher, Wasser spritzte auf Blätter und Zweige, Pflanzen stimmten raschelnd in die Harmonie ein.
Regen war etwas, das man genießen und nicht ertragen musste. Er erfrischte die Luft und vertrieb die Insekten. Er schenkte der ganzen Welt das Leben. Die Tropfen rannen warm über seine Haut und kühlten ihn ein wenig ab. Rebraal liebte den Regen.
Später, als er auf dem überwucherten Vorplatz vor dem Tempel stand, rief Rebraal die Al-Arynaar zu sich. Es war ein Ruf zu den Waffen, der bei ihnen allen Furcht auslöste und dennoch auf Entschlossenheit stieß. Er hatte sich gefragt, ob der Ruf – in Wirklichkeit ein Lied, das in einer alten und schon lange untergegangenen Sprache weit durch den Wald hallte – wirklich notwendig war. Doch die Bedrohung war so groß, dass nicht einmal das Lied Deneth-barine sie wirklich beschreiben konnte.
Nachdem Mercuun aufgebrochen war, um Alarm zu schlagen, hatte Rebraal,
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