Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
befand. Es war eine Wanderung, die er nicht genoss.
Direkt gegenüber dem verrammelten Vordereingang mit den zerschlagenen, aber inzwischen reparierten Türen lag der ehemalige, aus Holz und Glas konstruierte Durchgang zum Obstgarten, dem jetzt zerstörten Zentrum des Hauses. Der Unbekannte blieb stehen und blickte hinüber, und die Bilder von der Schlacht erwachten mit beunruhigender Klarheit zum Leben.
Er sah wieder den Obstgarten brennen, nachdem dordovanische Magier ihn mit Feuerkugeln bombardiert hatten. Er sah die Gestalten von Magiern, die auf Schattenschwingen in den brennenden Garten flogen. Er hörte das Geräusch der Sprüche, die aufs Dach niedergingen. Blutspritzer im Gesicht. Bei den Göttern, der Rabe hatte tapfer gegen eine gewaltige Überzahl gekämpft.
Der Unbekannte legte sich eine Hand auf die Stirn und spürte einen Schweißfilm. Seine Hüfte tat weh, als er sich an den verzweifelten Lauf durch den Flur zum Ballsaal und zur Küche erinnerte. Es war ein stechender, starker Schmerz.
Wieder hatte er den Geruch von Asche und Angst in der Nase. Sterbende Protektoren, getötet von genau gezielten magischen Entladungen. Densers hektische Versuche, sie vor Armbrustfeuer von hinten abzuschirmen, Hirads Brüllen und sein Schwert, das in dordovanisches Fleisch eindrang. Und wie schon so oft sah er vor dem
inneren Auge einen Protektor, der Lyanna mit dem eigenen Körper vor einem Eiswind beschützte. Ilkars Schwert, das sich um sich selbst drehte und durch die Luft flog. Das Blut, das aus der Nase des Magiers strömte. Auch Selik sah er, der über der hingestreckten Erienne stand, als Hirad auf ihn losging. Und am Ende Darrick und Ren, die sie alle retteten, obwohl sie hätten sterben sollen.
Alle bis auf Lyanna. Den Kummer, dass es so verkehrt ausgegangen war, konnte er nie überwinden. Denn gerade sie hätte überleben sollen, und am Ende war sie die Einzige, die sterben musste. Trotz aller Verteidigung. Obwohl sie bis zum Umfallen gekämpft hatten. Obwohl sie an ihren Sieg geglaubt hatten, hatte der Rabe Lyanna nicht retten können.
Nichts hätte sie retten können. Er lehnte sich schwach an den Türrahmen.
»He, hast du dich gerade in deinen Erinnerungen verloren?« , fragte Diera. Sie hakte sich mit dem freien Arm bei ihm unter.
Zusammen gingen sie durch den langen Flur, von dem aus sie den Obstgarten überblicken konnten, zum Bankettsaal. Auf der anderen Seite lag eine immer wieder von Türen unterbrochene Wand.
»Irgendwie schon«, sagte er. »Man kann nicht verhindern, dass einen die Erinnerungen einholen.«
»Hast du hier gekämpft?«, fragte Diera.
Der Unbekannte schaute auf sie herab, während sie weitergingen.
Hirad hielt höflich Abstand.
Sie sah sich um, als wollte sie versuchen, sich die Ereignisse vorzustellen. Jonas hatte sich an ihre Schulter gekuschelt und war fast eingeschlafen.
»Den ganzen Weg von der Vordertür bis zur Küche.
Wir sind allerdings nicht weggerannt.« Er versuchte zu lächeln, doch sie schauderte.
»Es muss schrecklich gewesen sein«, flüsterte sie.
»Ich dachte, wir müssten alle sterben«, sagte er.
Diera schmiegte sich an ihn, und er drückte ihre Schulter.
»Es holt dich ein, was?«, sagte Hirad und schloss zu ihm auf.
»Das kann man wohl sagen«, entgegnete er.
»Es verblasst, aber es verschwindet nie ganz«, stimmte der Barbar zu.
»Komm schon«, sagte der Unbekannte. »Lass uns den Raben zusammenrufen. Über mein Seelenleben kann ich mir später noch Gedanken machen.«
Rebraal führte die Al-Arynaar in die Kuppel von Aryndeneth, und sogleich erfüllte ihn die Majestät des Tempels. Wie alle seine Gefährten spürte er die pulsierende, lebendige Harmonie. Süß und beruhigend fegte sie das Gefühl der Bedrohung hinweg, die draußen lauerte, und schenkte ihm die Sicherheit des Ewigen. Sie stärkte seinen Glauben und flößte seinem Bewusstsein jene Entschlossenheit ein, welche die Al-Arynaar von allen anderen unterschied.
Er atmete tief ein und ging weiter in die große kühle Kuppel hinein, weiter zur prächtigen Statue und dem wundervollen Wasserbecken. Rebraal konnte immer noch nicht richtig glauben, dass Aryndeneth und alles, was der Tempel barg, bereits vor fünf Jahrtausenden erbaut worden waren.
Hinter der Schwelle war der Boden mit einem Muster aus Marmor- und Steinfliesen ausgelegt, deren vielfarbige Flächen zu genau vorbestimmten Tageszeiten von der
Sonne berührt wurden. Darin spiegelte sich das Licht, damit die Götter des
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