Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Waldes und des Landes, der Luft und des Mana und der Harmonie angebetet werden konnten. Sitzplätze gab es in der Hauptkuppel keine, allerdings waren in den Ecken des Tempels Meditationszellen eingerichtet, in denen Steinbänke und Kerzenständer auf Besucher warteten. Weiter hinten führte ein Durchgang zu weiteren Kammern, die auf beiden Seiten lagen. Diese Türen öffneten sich nur zu bestimmten Tages- oder Jahreszeiten. Die Kuppel selbst war ein Ort der stillen Verehrung, wo man die Hände auf den Boden legte, um den Göttern im Gebet nahe zu sein.
Zwischen den präzise gesetzten Fenstern waren die Wände und das Kuppeldach mit komplizierten Wandmalereien geschmückt. Sie beschrieben den Aufstieg von Yniss und die Prüfungen des Elfenvolks, während es seine Langlebigkeit und das Recht erworben hatte, in diesem Land zu leben. Lebhafte Farben zeichneten die Geschichte von Calaius nach. Das Zentrum des Kuppeldachs wurde von einer umfassenden Darstellung der Dimension von Balaia eingenommen, in deren Zentrum sich Calaius befand. Vom Südkontinent strahlten die Kraftlinien aus, die im Glauben der Elfen das Land und das Meer miteinander verbanden. Diese Linien schenkten den Elfen überall auf der Welt das Gefühl, ihre Heimat und ihren Ursprung an einem ganz bestimmten Ort zu haben. In Aryndeneth.
So schön die Wandmalereien, die Karten und die Verzierungen auch waren, sie waren nichts im Vergleich zu dem Objekt, das den Tempel dominierte. Im Zentrum der Kuppel von Aryndeneth erhob sich eine siebzig Fuß hohe Statue.
Es war die Statue des Gottes Yniss, den die Elfen als Vater ihres Volkes anbeteten. Er hatte den Elfen das große
Geschenk gemacht, im Einklang mit dem Land und seinen Bewohnern, mit der Luft und mit dem Mana leben zu dürfen. Rebraal blickte zur Statue, die aus einem einzigen Block eines polierten, hellen geäderten Steins geschlagen war.
Yniss hockte auf einem Knie und schaute an seinem rechten Arm entlang. Der Arm ruhte auf dem zweiten Knie, und die Hand lag tiefer als das Knie. Daumen und Zeigefinger standen im rechten Winkel von den übrigen, halb zur Faust geballten Fingern ab. Alle Details der Statue waren fein gearbeitet. Yniss wurde als alter Elf gezeigt; um die Augen und auf der Stirn waren einige Falten angedeutet. Das lange, volle Haar und der Bart waren dargestellt, als würden sie vom Wind über die rechte Schulter geweht.
Romantischer Idealismus hatte die Bildhauer veranlasst, den Körper des Gottes muskulös und mit perfekten Formen zu modellieren. Hier und dort sah man eine Falte, die sein Alter verriet, doch insgesamt hatte die Gottheit den Körper eines Athleten. Eine Art Toga bedeckte nur einen Teil des Bauchs und seinen Schritt, an den Füßen trug er Sandalen. Die kräftigen Schultern, die erstaunlich wohl geformten Arme und die mächtigen Beine blieben frei.
Es gab keine Farben außer den natürlichen Farben des Marmors, doch Rebraal musste immer die schrägen, ovalen Augen anstarren. Die starke Linienführung, der kluge Einsatz der Lichtverhältnisse und Schatten im Tempel erweckten den Eindruck, als schimmerten sie vor Lebenskraft.
Die Majestät der Statue war nur der äußere Ausdruck ihres wahren Zwecks. Die Schriften sagten, Yniss sei zu diesem Ort gekommen, um der Welt das Leben zu schenken
und die Harmonie einzurichten, aus der die Elfen hervorgingen. Er gab ihnen ihr langes Leben und zeigte ihnen die Schönheit des Waldes und der Erde. Yniss ließ seine Lebensenergie durch den Zeigefinger und den Daumen in das Becken der Harmonie strömen, von wo aus sie sich in das ganze Land ausbreitete und alles erstrahlen ließ, was sie berührte. Die Schriften erklärten den späteren Bildhauern, warum Yniss’ Hand gerade auf diese Weise dargestellt werden musste, denn die präzise Wiedergabe sollte dafür sorgen, dass der Fluss der Lebensenergie auf ewig ungebrochen blieb. Röhren, die im Daumen und Zeigefinger der Statue verborgen waren, leiteten Wasser aus einer unterirdischen Quelle ins Becken unter der ausgestreckten Hand der Statue.
Rebraal glaubte, es sei die Harmonie, die ihn am Leben hielt, auch wenn die Schriften über die Konsequenzen einer Störung keine klare Auskunft gaben, abgesehen davon, dass diese katastrophal wäre. Vielleicht würden die Wälder verdorren, oder die Elfen würden sterben. Es spielte keine große Rolle. Solange die Al-Arynaar lebten, würde niemand die Harmonie stören, weder versehentlich noch mit Vorsatz.
Rebraal kniete sich vor die Statue
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