Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
und vor das dreißig Fuß breite, halbmondförmige und süß duftende Becken, in dem das Wasser der Lebensenergie aufgefangen wurde. Er legte die Hände fest auf den Steinboden und neigte den Kopf, bis er die kühlen Fliesen mit der Stirn berührte. Dann hob er den Kopf wieder, sah Yniss in die Augen und betete noch einmal um ein Wunder.
Selik, der Kommandant der Schwarzen Schwingen, hatte nach dem Tod von Lyanna, Eriennes abscheulicher Brut, einen großen Teil Balaias bereist. Er hatte gesehen, was
die schmutzige Magie des Kindes seinem Land angetan hatte. Er hatte zerstörte Städte und Dörfer gesehen, verwüstete Felder und die Leichen von Vieh, das auf platt gedrückten Weiden verendet war und verweste. Er hatte entwurzelte Wälder gesehen, Flüsse, die Ebenen überschwemmt hatten, und Seen, die auf die doppelte Größe angeschwollen waren, in denen viele Menschen ertrunken waren. Und er hatte die Stellen gesehen, wo die Erde sich geöffnet und das Land verschluckt hatte. Große Narben waren dort in der Landschaft zurückgeblieben, aus denen Siechtum und Tod kamen.
Schlimmer als die verwüsteten Landschaften war das Leiden in den Städten und Dörfern, wo noch Menschen lebten, die nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Korinas einstige Pracht war geschwunden, und die Hauptstadt war heruntergekommen. Aus der Umgebung kamen keine landwirtschaftlichen Produkte mehr herein, es gab so gut wie keine Vorräte an Getreide, und die Bevölkerung hing von dem ab, was die Fischereiflotte an Land brachte, die sich allerdings in einem erbärmlichen Zustand befand. Weniger als dreißig seetüchtige Schiffe waren noch vorhanden, die anderen lagen als Wracks an den zerstörten Kaianlagen. Korinas Bevölkerung zählte mehr als eine Viertelmillion Menschen, und selbst nachdem viele Einwohner in die Städte im Landesinneren geflohen waren, stand man dort noch auf verlorenem Posten.
Die Bevölkerung hatte einen strengen Winter überlebt, war jetzt aber dem Verhungern nahe. Stürme und Überschwemmungen gab es nicht mehr, doch ihre Hinterlassenschaft, Ratten und Krankheiten, machten der Stadt zu schaffen. Selik war klar, dass es in ganz Balaia ähnlich aussah. Vier Ausnahmen gab es: Xetesk, Dordover, Lystern und Julatsa.
Magie. Travers, sein ehemaliger Anführer, der die Schwarzen Schwingen aufgebaut hatte, die er jetzt selbst befehligte, hatte völlig Recht gehabt. Oberflächlich betrachtet konnte die Magie etwas Gutes bewirken, doch in Wirklichkeit zerstörte sie das natürliche Gleichgewicht. Und wo sie außer Kontrolle geriet, litten und starben die Menschen. Wie geschwächt Balaia jetzt war – und wie blind so viele gegenüber den Ursachen waren! Doch die Magie hatte schon immer die Macht besessen, Katastrophen auszulösen, und jetzt konnte niemand mehr vor dieser Tatsache die Augen verschließen. Das böse Kind hatte mit seiner ungezügelten Magie einen ganzen Kontinent heimgesucht und Unschuldige getroffen, die jetzt die Konsequenzen zu tragen hatten.
Wo waren die Magier jetzt? Sie waren schuldig, einfach weil sie Magier waren, und hatten sich in die Sicherheit ihrer Kollegstädte zurückgezogen, wo sie sich versteckten, Fett ansetzten und einen Krieg vorbereiteten. Die ganze Zeit über mussten diejenigen, um die sie sich angeblich sorgten, verhungern. Kein Wunder, dass die Bevölkerung sich gegen die Magier wandte. Selbst dort, wo noch Magier lebten, waren die Schäden zu groß. Sie konnten nicht mehr helfen, und ihre Bemühungen entsprangen ohnehin nur ihren Schuldgefühlen und nicht etwa echter Anteilnahme.
Sie hatten ihr wahres Gesicht gezeigt. Die Magie war nicht stark, sie war eine Kraft des Opportunismus, sie richtete sich gegen die Schwachen und zwang sie zum Gehorsam. Nun, die Sache sah jetzt ganz anders aus. Die Schwachen würden lernen, sich selbst zu helfen, und der Magie nicht erlauben, jemals wieder eine Rolle in ihrem Leben zu spielen. So bald wie möglich würden sie gänzlich ohne Magie leben.
Es würde kein einfacher Weg. Balaia musste eine neue Kraft und eine neue Ordnung finden. Eine Ordnung, in der die Schurken aus den Kollegien gemieden und verachtet wurden. Nie wieder sollten die Anwender der Magie über das Gleichgewicht der Macht entscheiden dürfen.
Selik hatte alles gesehen, was er sehen musste. Seine Anhänger verbreiteten Zwietracht und Gerüchte und bereiteten den Boden. Der reine Weg. Der gerechte Weg. Sobald die Mehrheit der Bevölkerung hinter ihm stand, konnte er einen
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