Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
Pflanzen, als Denser sich ihr von hinten näherte. Sie hatte einen Eimer und einen Becher dabei und goss behutsam Wasser auf die strahlenden Blumen und die Erde ringsherum. Manchmal zupfte sie ein wenig Unkraut aus oder nahm ein totes Blatt vom Grab. Als sie fertig war, füllte sie den Becher und goss sich das Wasser über den Kopf und über das Gesicht.
Das Wasser spritzte auf ihre leicht gewebten Kleider und lief in kleinen Bächen über ihr Gesicht. Dreimal füllte sie den Becher nach, dann schüttelte sie den Kopf und verteilte einen Schauer kleiner Tropfen in der Luft. Sie legte die Hände auf das Gesicht und fuhr mit den Fingern durch ihr Haar.
Bei den fallenden Göttern, sie war schön. Das Wasser hatte ihr Hemd durchweicht, der Stoff klebte an ihren Brüsten, und das feuchte Haar hing auf ihrem Rücken. Es war ein hinreißender Anblick. Denser seufzte. Im Augenblick musste er solche Gedanken in seine Träume verbannen. Er wusste, dass auch Erienne ihn begehrte, doch es lag bei ihr, auf ihn zuzugehen, und sie wusste, dass er wartete.
Wie immer hörte sie ihn kommen und drehte sich halb herum. Ihre Mundwinkel hoben sich eine Spur.
»Tut mir Leid, dass ich gestern die Tür verschlossen habe«, sagte sie.
Denser schüttelte lächelnd den Kopf. Es war nicht das erste Mal, dass er woanders geschlafen hatte. »Mach dir deshalb keine Sorgen, Liebste.«
»Ich habe deinen Atem vermisst.«
»Wirklich?« Denser setzte sich neben sie. Er staunte über ihre Bereitschaft zu reden. Oft war es das Sprechen, das ihr am schwersten fiel. Der Anblick des Grabes weckte die Erinnerungen.
»Jeder braucht ein Stück Normalität«, sagte sie und strich eine Strähne aus ihrem Mundwinkel. »Etwas, das da ist, für den Fall, dass man es braucht.«
»Ich werde immer da sein.«
»Aber ich weiß, warum du jetzt gerade hier bist. In diesem Augenblick.«
»Das dachte ich mir schon. Du weißt, dass er Recht
hat, nicht wahr?«, fragte Denser und wartete auf das zornige Blitzen in ihren Augen. Es blieb aus. In diesem Moment jedenfalls.
»Aber es hat mich niemand gefragt, oder? Sie haben einfach angenommen, dass ich mitkommen würde. Dass ich sie so einfach hier allein lasse.« Sie klopfte mit der flachen Hand auf den Boden, und auf einmal begann sie zu weinen. »Wie kannst du das von mir verlangen? Sie ist meine Tochter.«
Denser wollte sie in den Arm nehmen, doch Erienne wich zurück und wischte sich mit den Fingern das Gesicht trocken.
»Sie wird nicht allein sein. Und sie wird hier sicher ruhen, bis du zurückkehrst, dafür werde ich sorgen.«
Erienne gab einen verächtlichen Laut von sich. »Willst du einen der Protektoren abstellen, das Grab zu hüten? Es wäre nach einem Tag verwüstet.«
Denser war nicht sicher, ob sie scherzte oder nicht. »Die Elfen der Gilde sind auch noch da.«
»Wenn ich nicht hier bin, werden sich die Hexen einmischen und alles verderben, was ich gemacht habe.« Da war das zornige Blitzen, und es machte Denser das Herz schwer.
»Erienne, sie haben nicht einmal mehr genug Kraft, hierher zu laufen. Nerane kann sich um das Grab kümmern. Meinst du nicht auch, dass sie es gewissenhaft tun wird?«
Erienne zuckte mit den Achseln und starrte schweigend das Grab an.
»Erienne?« Sie schaute zu ihm auf. »Bitte, wir brauchen dich. Der Rabe ist nicht vollständig ohne dich.«
»Würdest du mich verlassen? Wenn ich nein sage?«
»Ich gehöre zum Raben«, sagte Denser.
»Zuerst einmal bist du mein Mann, du Bastard!«, fauchte sie. »Aber wenn der Unbekannte mit den Fingern schnippt, dann springst du. Na schön.«
»Als ich ihn um Hilfe gebeten habe, war er da. Er war für uns beide da«, sagte Denser leise. »Und er hat seine Familie verlassen, um uns zu helfen. Balaia braucht das, was wir geben können.«
»Ich habe alles verloren«, sagte Erienne, als führte sie ein ganz anderes Gespräch.
»Nicht ganz. Ich bin noch da, der Rabe ist da, und Balaia ist da. Du wirst mich nie verlieren, aber wir müssen für unser Land kämpfen.«
Erienne warf ihm einen prüfenden Blick zu und suchte nach Unaufrichtigkeit. »Glaubst du wirklich, der Rabe kann helfen?«
»Du nicht?« Denser zuckte mit den Achseln.
»Wir siegen nicht immer, nicht wahr?« Eriennes Stimme drohte wieder zu brechen.
»Nein, wir gewinnen nicht immer. Aber trotzdem sind wir da.«
»Und du willst gehen, ob ich nun mitkomme oder nicht?«
»Oh, Liebste, das ist keine Entscheidung, die ich gern treffen möchte. Aber wir haben unser
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