Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
waren, auf einen Happen Essen zu verzichten, runzelten gleichzeitig die Stirn.
»Warum wollt Ihr das tun?«, fragte einer der beiden, ein sommersprossiger Bursche mit verfilztem hellbraunem Haar und getrocknetem Rotz auf der Oberlippe. In Lumpen ging er nicht, aber seine Kleider trug er sicher schon viel zu lange. Sie waren schäbig, aber nicht zerfetzt.
»Weil ihr hungrig seid, und weil ich ein guter Mann bin, der für eine gute Sache kämpft.«
»Wer seid Ihr denn?«, fragte das Mädchen, das gleichzeitig seine Hand drückte und ihm die widerliche Brotrinde gab.
Selik nahm sie und ging zu seinen Männern. Sein Pferd folgte ihm und den Kindern gehorsam. »Nun, meine junge Dame, mein Name ist Selik, und ich befehlige eine Truppe, die versucht, Menschen wie dir, deinen Eltern und all deinen Freunden zu helfen. Wir sind die Schwarzen Schwingen. Hast du schon einmal von uns gehört?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf, ebenso die beiden Jungen, die auf der anderen Seite neben ihm gingen. Selik empfand grimmige Zufriedenheit.
»Ah, schon gut, das macht nichts. Aber ich sag euch was. Damit wir euch helfen können – damit es euren Freunden besser geht und ihr bald wieder mehr zu essen
bekommt –, müsst ihr mir verraten, wo ich einige Leute finde, wenn ich euch etwas zu essen gebe. Einverstanden?«
Das Mädchen zuckte mit den Achseln, dann nickte es.
»Danke. Wie heißt du?«
»Elise«, sagte das Mädchen.
»Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen.«
»Warum tragt Ihr eine Kapuze?«, fragte einer der Jungen unvermittelt.
Selik blieb stehen und sah den Jungen scharf an, der sofort den Kopf einzog. Seliks Gesicht war unter der Kapuze verborgen, doch der harte Glanz seiner Augen blieb sichtbar.
»Wenn man gegen das Böse kämpft, wird man manchmal verletzt. Mein Gesicht könnte kleine Jungen und Mädchen erschrecken, und dann würden sie schlecht über mich denken.« Er hatte Mühe, ruhig zu sprechen. »Also gut, euer Essen.« Er wandte sich an den vordersten Reiter und schnippte mit den Fingern. »Devun, gib jedem der drei etwas Dörrfleisch und ein wenig von den Frühlingsfrüchten, die du gefunden hast. Sie haben Hunger, und ihre Not ist größer als unsere.«
Devun zog die Augenbrauen hoch, öffnete jedoch gehorsam die Schnallen einer Satteltasche und holte einige eingewickelte Pakete erhaus. Er roch an ihnen, als er sie herauszog, und gab drei davon an Selik weiter. Der Kommandant der Schwarzen Schwingen wickelte sie aus und zeigte den Kindern den Inhalt. Zwei enthielten Streifen von Dörrfleisch, im dritten waren weiche Früchte, die beinahe schon überreif waren.
»Das wird eine Weile reichen, wenn ihr vorsichtig seid. Und ich will nicht hören, dass ihr euch darum zankt.« Er sah noch einmal die beiden Jungen an, bis sie ungeduldig
mit den Füßen scharrten und nickten. »Gut. Wenn wir wieder stark werden wollen, dann müssen wir zusammenhalten.«
Er hockte sich hin und gab den Kindern das Essen, die es gierig nahmen. Sie bedankten sich murmelnd, ihnen lief schon das Wasser im Mund zusammen, und sie hatten erwartungsvoll die Augen aufgerissen.
»Und jetzt zu eurem Teil der Abmachung«, erinnerte er sie. »Ihr sollt mir zwei Dinge sagen: Ist Lord Erskan noch am Leben?«
»Ja, das ist er«, sagte Elise. »Aber er kommt nicht mehr aus der Burg heraus. Mein Bruder sagt, er sei krank.«
»Oder er versteckt sich vor seinem Volk«, sagte Selik halblaut. »Und wisst ihr auch, ob es noch Magier in der Stadt gibt?«
Es gab eine Pause.
»Ich glaube schon«, sagte der sommersprossige Junge nach einem Blickwechsel mit seinem Freund. »Aber ich weiß nicht, wo sie sind.«
»Nein, das ist klar.« Selik richtete sich auf. »Ich nehme an, sie schämen sich zu sehr, um sich blicken zu lassen. Wahrscheinlich schleichen sie nur noch in der Nacht herum, falls sie sich überhaupt herauswagen.« Er holte tief Luft. »Nun gut, ihr drei könnt jetzt gehen, aber eines dürft ihr nicht vergessen. All euer Hunger und euer Schmerz wurde durch die Magie und durch die Leute verursacht, die die Magie einsetzen, ohne auf die Auswirkungen zu achten. Menschen wie ihr und eure Familien sind die Opfer. Wenn ihr herausfindet, wo die Magier sind, dann müsst ihr zu mir kommen und es mir sagen, und ich kümmere mich dann um sie. Und jetzt lauft.«
Er sah ihnen nach, wie sie über die Hauptstraße eilten. Sie zankten um ihre jeweiligen Anteile, doch ihr Streit um
die Brotrinde war vergessen. Wenigstens, bis ihre Mägen
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