Die Legenden des Raben 01 - Schicksalswege
einem Krug, das er auf einem der niedrigen Tische absetzte. Erskan entließ ihn mit einer Geste.
»Kommt und setzt Euch«, sagte Erskan. Er kam langsam
zu den Stühlen herüber. »Ein Glas Wein kann ich Euch anbieten, damit sind wir noch gut versorgt.« Er kicherte humorlos. »Und nehmt die verdammte Kapuze ab. Ich weiß, welche Entstellungen sie verbirgt.«
Selik warf die Kapuze zurück und war dankbar für die kühle Luft, die seinen Kopf umfächelte. Er setzte sich gegenüber von Erskan, der nicht zusammenzuckte, als er Seliks entstellte linke Wange, das tote weiße Auge und den hängenden Mundwinkel betrachtete. Er war ein Mann in mittleren Jahren, der in nur zwei Jahreszeiten stark gealtert war, schrecklich abgemagert und zerbrechlich. Seine grauen Strähnen waren von Öl geglättet, in seinem schmalen Gesicht saß eine Adlernase, er hatte ein stark hervortretendes Kinn und stumpfe blaue Augen. Seine Hände hatten Leberflecken, die Nägel waren bis aufs Fleisch abgekaut, und sie zitterten, als er Wein einschenkte und Selik ein Glas gab.
»Nun, Hauptmann, oder vielleicht sollte ich besser Kommandant sagen. Welche Eröffnungen habt Ihr mir zu machen, die das Volk von Erskan aufmuntern könnten?« Der Lord hob sein Glas an den Mund.
»Hauptmann, bitte.« Selik lächelte. »Ich verstehe Euer Misstrauen, mein Lord. Ich will auch gern einräumen, dass gewisse Taten der Schwarzen Schwingen … übereifrig waren.«
»Das ist ein wenig untertrieben«, sagte Erskan.
»Aber wie dem auch sei, wir wissen, wie die letzten beiden Jahreszeiten verlaufen sind, und unsere Befürchtungen waren mehr als gerechtfertigt. Die Realität hat die schlimmsten meiner Albträume übertroffen.«
Erskan nickte vorsichtig. »Damit wollt Ihr doch hoffentlich keinen Mord oder irgendein geringeres Eurer Verbrechen rechtfertigen.«
»Mord ist so ein befrachtetes Wort.« Selik reagierte empfindlich, obwohl er entschlossen war, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich bitte Euch lediglich um Zustimmung dafür, dass die Magie, wie wir Schwarzen Schwingen es schon immer gefordert haben, streng überwacht und unabhängig von den Kollegien kontrolliert werden muss.«
Erskan lehnte sich an. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und dämpfte das bunte Licht im kargen Raum.
»Ich denke, das geht mir ein wenig zu weit. Ein Verhaltenskodex wäre allerdings ein guter Kompromiss«, sagte Erskan. »Schließlich kann man aufgrund eines einzigen, außer Kontrolle geratenen Kindes nicht den Schluss ziehen, alle Magier in allen Kollegien handelten verantwortungslos.«
»Aber seht doch, was sie ausgelöst hat, erst die Zerstörung und jetzt den Krieg«, sagte Selik. »Und wir können doch nicht vergessen, was in Arlen geschehen ist, oder gar in Julatsa, weil die Magie zu leichtfertig eingesetzt wurde.«
»Nun, ich …«
»Wart Ihr in Arlen, mein Lord? Habt Ihr Korina, Gyernath, Denebre oder Grethorne besucht?« Seliks Stimme wurde härter. Er konnte sehen, dass er so nicht weiterkam.
»Leider nein, wie ich gestehen muss.« Wenigstens war Erskan so anständig, ein wenig Verlegenheit zu zeigen. »Wir hatten hier selbst genug Probleme.«
»Arlen ist durch den neuen Konflikt praktisch zerstört worden. Eure Häuser stehen noch, und Eure Bauern pflanzen Getreide. Für Euch hier ist das Ende in Sicht.«
Erskan lächelte schmal. »Unsere Familien begraben täglich ihre Toten, sie melden Erkrankungen in immer
größerer Zahl, doch auch die Heiler sind tot, und die Magier sind geflohen. Wenn die Erntezeit kommt, werden nur noch weniger als ein Drittel meiner Leute leben. Ich frage mich, ob überhaupt noch jemand da sein wird, der sich um die Felder kümmert, von der Ernte ganz zu schweigen.«
Selik trank einen großen Schluck Wein. Es war ein Roter aus Denebre, für den man bald einen sehr hohen Preis verlangen konnte. Denebre und seine Weingüter waren von der Erde verschlungen worden. Erskans Augen zeigten einen Kummer und eine Verzweiflung, die auch das kälteste Herz rühren mochten. Die Schwarzen Schwingen konnten sich solche Gefühlsduseleien allerdings nicht erlauben.
»Dann ist jetzt der Zeitpunkt, um zuzuschlagen«, sagte Selik. »Die Magier müssen für das Unheil büßen, das sie über unser Land gebracht haben. Wo sind sie jetzt überhaupt? In den Stunden der größten Not gehen sie sich gegenseitig an die Kehle.
Ich brauche Männer, Lord Erskan. Und ich brauche sie sofort. Glaubt Ihr denn, Ihr werdet dem Krieg hier irgendwie entgehen? Wir
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