Die Legenden des Raben 03 - Schattenherz
der Bettkante, sie hatte sich einen leichten Schal über die Schultern gelegt und den oberen Teil ihres Nachthemds bedeckt. Mit
einer Hand streichelte sie den Kopf ihres schlafenden Sohnes. Eine Lampe mit niedrig gedrehtem Docht reichte aus, um ihr besorgtes Gesicht und das straff gebundene Haar zu zeigen. Bei den Göttern, sie war anziehend. Eine gerade erwachte Frau. Wie schön es wäre, wenn sie ihn zu sich winken würde.
Natürlich tat sie es nicht. Sie starrte ihn mit einer Mischung aus ängstlicher Erwartung und Verachtung an. »Erzählt mir von meinem Mann«, verlangte sie. »Und macht schnell. Möglicherweise muss ich mit Sha-Kaan sprechen.«
»Natürlich«, sagte Nyam. »Es tut mir wirklich leid, dass ich auf diese Weise eindringe.« Sie tat seine Entschuldigung mit einer Handbewegung ab. »Und es tut mir leid, dass ich Euch unnötige Sorgen bereitet habe, denn es ist nicht Euer Gatte, der in Gefahr schwebt. Es ist Erienne.«
Mit angehaltenem Atem wartete er auf ihre Reaktion. Außer der Kälte, die ihr Gesicht ausstrahlte, war nichts zu sehen.
»Wenn mein Mann nicht in Gefahr schwebt, dann schwebt auch Erienne nicht in Gefahr. Ich würde vorschlagen, dass Ihr einen überzeugenden Grund für diesen unwillkommenen Besuch nennt.«
Jonas regte sich neben ihr. Sie warf Nyam einen vielsagenden Blick zu.
»Die Kraft der Al-Drechar hilft ihr, das Eine zu bändigen«, sagte er, während er ihr Gesicht nicht aus den Augen ließ. »Sie sind jedoch nicht mehr stark genug. Wir können ihr helfen. Xetesk will, dass das Eine wächst.«
»Ich weiß nicht, was Ihr damit meint«, sagte sie, doch ihre Stimme klang nicht gereizt, und ein Flackern ihrer Augen verriet sie.
»Doch, Ihr wisst es«, antwortete Nyam leise. »Ich sehe es.«
»Geht«, erwiderte Diera. »Ich kann Euch nicht helfen.« Sie zog den Schal enger um sich.
Nyam beugte sich vor und packte sie grob bei den Oberarmen. »Verdammt sollt Ihr sein, Frau, Ihr werdet mir helfen«, fauchte er. Einen Moment lang war ihr anzusehen, wie erschrocken sie war und wie sehr sie sich fürchtete. »Wir können es uns nicht erlauben, sie ohne unseren Schutz herumlaufen zu lassen. Wenn die Al-Drechar versagen, wird Balaia abermals zerstört. Ich habe Berichte erhalten, dass es bereits begonnen habe. Was glaubt Ihr denn, warum ich Euch jetzt wecke? Was die Al-Drechar im Augenblick auch tun, es ist nicht genug. Ich muss mit ihnen sprechen und sie beobachten, damit wir sie unterstützen können.«
»Warum redet Ihr nicht mit den Elfen der Gilde oder mit den Al-Drechar selbst, wenn Ihr es ehrlich meint?«
»Wenn Ihr mich nicht darin unterstützt, werden sie mir nicht glauben. Sie werden alles abstreiten, weil sie fürchten, was wir tun werden. Vor allem wollen wir aber dafür sorgen, dass Erienne am Leben bleibt.«
»Lasst meine Arme los.«
Er gehorchte. »Es tut mir leid. Bitte, Diera, es nützt uns allen, wenn Ihr mir helft.«
»Ihr müsst mich für sehr dumm oder taub oder beides zugleich halten.« Sie erwiderte seinen Blick. »Glaubt Ihr denn, ich rede mit niemandem? Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, was Xetesk will? Ich bin nicht die beschränkte Frau und Mutter, für die Ihr mich anscheinend haltet. Ich bin die Frau des Unbekannten Kriegers, und Ihr steckt in größeren Schwierigkeiten, als Ihr es Euch überhaupt vorstellen könnt.«
Das wusste Nyam bereits. Eine seltsame Ruhe kam über ihn. Er zuckte mit den Achseln.
»Die Zeit für solche Ängste liegt hinter uns. Xetesk muss
den Krieg gewinnen. Die Kontrolle über Erienne wird uns diesen Sieg bescheren.«
»Sie ist doch nur eine dordovanische Magierin.«
Nyam lächelte. »Diera, ich achte Euch und Eure Tapferkeit. Sol hätte keine bessere Frau wählen können. Aber achtet auch mich. Erienne ist sehr viel mehr als nur eine Dordovanerin. Ihr könnt es leugnen, aber wir werden es beweisen. Wollen wir jetzt zusammen die Al-Drechar aufsuchen?«
»Warum sollte ich mich bewegen? Ich muss nur laut rufen.«
»Diera.« Nyam presste die Lippen zusammen, weil seine Geduld nahezu erschöpft war. »Ich bin nicht sicher, aber meine Handlungen könnten mir den Tod bringen. Eines weiß ich aber genau. Wenn Ihr mir jetzt nicht helft, werden sie ganz sicher Euch den Tod bringen.« Drohend näherte sich seine Hand dem schlafenden Kind. »So ein hübscher Junge. Er braucht seine Mutter, meint Ihr nicht auch?«
Der Durchbruch stand unmittelbar bevor, und dieser Erfolg konnte Gylac nach Ranyls Tod einen Platz im Kreis der
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