Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
schien eine so große Drohung zu bergen, dass Dystran unwillkürlich schauderte.
Kaum ein Geräusch war zu hören, nichts außer seinem eigenen Atem, dem Knacken der Feuer und dem Zischen der Laternen und Fackeln. Aller Augen beobachteten den Lichtfaden, der über die Stadt wanderte. Alle Münder blieben stumm.
»Sharyr?«, zischte Dystran. »Ich brauche Antworten, und zwar schnell.«
»Ich habe keine«, sagte Sharyr verunsichert.
Dystran hätte ihn gern angesehen, wollte andererseits aber auch das Schauspiel nicht verpassen. Die Lichtpunkte waren jetzt fast verbunden, und eine düstere Vorahnung machte sich breit.
»Das muss ein Portal sein«, sagte Dystran. »Aber wohin führt es?«
»Das kann man nicht mit Sicherheit sagen«, erklärte Sharyr. »Wahrscheinlich ist es nur ein Überbleibsel von der Begegnung zwischen unseren Elementen und dem interdimensionalen Raum.« Sharyrs Stimme verriet, dass er selbst nicht glaubte, was er sagte.
Der Lichtfinger erreichte die Außenmauer des Kollegs. Fremdartige Geräusche durchbrachen auf einmal das angespannte Schweigen. Aus den Fenstern und Türmen, aus offenen Türen und schattigen Winkeln kamen Hausgeister geflogen. Zwei Dutzend oder mehr, alle, die noch im Kolleg waren.
Verschwunden das boshafte Gelächter und die schnatternde Verachtung. Die gewohnten Laute waren schrillem Kreischen und gedehnten, hohen, fragenden Schreien gewichen.
Schaudernd sah Dystran ihnen hinterher. Sie flogen in enger Formation, einer führte die anderen, bis sie spiralförmig den Lichtstrahl umkreisten. Nach ein paar Runden schwangen sie sich wieder in die Luft und stiegen in anmutigen Kreisen auf, ehe sie zum Kolleg hinabstürzten. Erneut hatten sich ihre Laute verändert – jetzt klangen die Rufe warnend und erschrocken.
Einer nach dem anderen zogen sie sich zu den Orten zurück, von denen sie gekommen waren. Nur der Letzte schwenkte ab und flog zum Balkon, auf dem Dystran stand. Als er vor dem Magier in der Luft schwebte, musste Dystran daran denken, dass er noch nie einen verängstigten Hausgeist gesehen hatte.
»Seid bereit«, zischte das Wesen. »Rettet die Meister. Sie kommen.« Dann verschwand er.
Dystran blickte wieder zum Strahl.
»Bei den guten Göttern, was haben wir getan?«, keuchte er.
Auf dem Gelände des Kollegs waren bereits die ersten Anzeichen von Panik zu erkennen. Leute rannten umher und stießen unverständliche Rufe aus. Dystran glaubte zu hören, wie Türen zuknallten und verriegelt wurden. Als ob das etwas ändern könnte. Die Dimensionsmagier drängten sich unterdessen vor dem Eingang des Balkons und wollten fliehen.
»Ich habe versucht, Euch zu warnen«, sagte Sharyr. »Die Ausrichtung war nie gut genug für die Kräfte, die wir entfesseln mussten. Der Durchbruch war unvermeidlich.«
»Anscheinend haben sie schon gewartet«, flüsterte Dystran.
»Seit wir den blauen Sturm gewirkt haben, denke ich«, stimmte Sharyr zu. »Meinen Glückwunsch, Lord Dystran. Ihr habt uns alle umgebracht.«
Eisige Kälte ging vom Strahl aus. Zähne schmerzten im kalten Zahnfleisch, Haare gefroren, Augen trockneten aus und brannten. Durch den gefrorenen Dunst in der Luft konnte Dystran sehen, wie sich der Strahl bewegte. Er bekam Kanten, blaues Licht brach daraus hervor. Dies war nicht das dunkelblaue Licht von Xetesk, sondern die strahlend blaue Farbe der Dämonendimension.
Dann stürzten sie zu Dutzenden, Hunderten und Tausenden hervor, vielfältige Gestalten, von unterschiedlicher Größe und Farbe.
Dystran sah Dämonen in der Größe kleiner Vögel auf summenden Flügeln vorbeihuschen, und andere, die größer waren als Häuser. Er sah Schwänze und Tentakel. Er sah Hälse, die an Drachen erinnerten, die Köpfe entstellter Menschen und andere, völlig fremdartige Gestalten. Schlangenähnliche Dämonen flogen schimmernd durch
den Himmel, Dämonen mit mächtigen Köpfen rasten über das Firmament.
Inmitten einer Woge aus blauem Dämonenlicht kamen sie heraus, und als sie lange genug hin und her geschossen waren, sammelten sie sich. Sie bildeten vier Hauptgruppen und Dutzende kleinerer Abteilungen und machten sich in alle Himmelsrichtungen auf, wie es schien.
Dystran konnte sich nicht rühren. Sein Mund war trocken, er zitterte am ganzen Körper.
»Tut etwas!«, brüllte Sharyr ihn an.
»Nichts«, murmelte Dystran. Er machte eine hilflose Geste. »Wir können nichts tun.«
»Ihr müsst die Leute einteilen, verdammt!« Sharyr packte ihn am Kragen und schüttelte
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