Die Legenden des Raben 05 - Drachenlord
Er harrte noch einen Moment aus, bis klar war, dass sie mit ihm zusammenprallen würden. Mit einem gereizten Bellen schlug er kräftig mit den Flügeln und stieg in nördlicher Richtung ein Stück höher, sodass sie ihre Formation auflösen mussten, um ihn abzufangen. Einer war schneller als die anderen. Sha-Kaan sah, wie er das Maul öffnete.
Er hätte nicht so viele Zyklen überleben können, ohne ein meisterhafter Flieger zu sein. Der Naik stürmte weiter, seiner Beute sicher. Sha-Kaan sah, wie er einatmete, dann schwoll der Hals um die Feuerkanäle an. Orangefarbene Flammen loderten, wo Sha-Kaan hätte sein sollen, doch dieser hatte längst die Flügel eingefaltet und war gefallen wie ein Stein. Gleichzeitig nahm er den Kopf herum und schoss eine Flammenlanze auf die Flanke des jungen Drachen ab.
Dann breitete er seine Flügel wieder aus und bremste den Sturz abrupt ab. Er brüllte laut. Die anderen Drachen zögerten, sahen ihrem Bruder nach, der zu Boden stürzte. Jetzt erst bemerkten sie, mit wem sie es zu tun hatten. Es war kein gewöhnlicher Feind. Es war Sha-Kaan.
Die fünf übrigen Naik schwärmten aus und umkreisten ihn, während er blieb, wo er war, sachte mit den Flügeln schlug und seine Schuppen zeigte.
»Versteht ihr denn gar nichts, oder seid ihr so voller Wut, dass ihr nicht einmal die Zeichen eurer Besucher richtig deuten könnt?« Sha-Kaans Stimme übertönte mühelos den Wind. Er sah sie zögern und schwanken zwischen der Ehrfurcht vor ihm und dem Gedanken, dass sie ihn gemeinsam vielleicht doch überwältigen und einen wichtigen Sieg erringen konnten.
»Du bist allein, alter Kaan«, verhöhnte ihn einer. »Verletzlich.«
»Das bin ich«, erwiderte Sha-Kaan. »Vielleicht möchtest du jetzt einmal darüber nachdenken, warum dies so ist. Wäre ich gekommen, um euch anzugreifen, dann wäre ich nicht allein.«
»Wir sind nicht sicher, ob du wirklich allein bist«, sagte ein anderer.
Sha-Kaan sah sich demonstrativ um. Die Wolken, durch die er gekommen war, zogen zehntausend Fuß über ihren Köpfen vorbei. Es gab kein Versteck.
»Dann solltest du deine Augen öffnen, Welpe. Und jetzt bringe mich zu Yasal-Naik. Ich muss mit ihm reden.«
»Das werden wir nicht tun. Es ist ein Trick, um Zugang zu unserem Brutland zu bekommen.«
Sha-Kaan seufzte. »Dann bringt ihn zu mir.«
»Wir nehmen keine Befehle von den Kaan entgegen.«
Es grollte tief in Sha-Kaans Brust. »Es ist eine Bitte.«
»Nenne den Grund.«
»Wenn er nicht kommt, und wenn er mir nicht zuhört, werden die Arakhe uns bald alle vernichten.«
Schweigend verdauten sie seine Erklärung, und zweifellos tauschten sie lautlos ihre Gedanken dazu aus.
»Es gibt keinerlei Beweise, die dies bestätigen. Yasal wird uns nicht dankbar sein, wenn wir ihn stören. Er wird uns aber danken, wenn wir deinen Leichnam mitbringen.«
»Damit weiht ihr eure Brut dem Untergang.« Sha-Kaan schlug einmal mit den Flügeln und streckte den Hals, bevor er ihn zu einem respektvollen ›S‹ bog. »Ich bitte euch, mir zu glauben. Ich bin Sha-Kaan, und ich bin allein gekommen, um mit Yasal zu reden. Lasst ihn über mein Schicksal entscheiden. Ich werde mich fügen, was er auch sagt.
Es liegt nun bei euch, meine jungen Naik.«
Am ersten Tag sagte der Unbekannte nicht viel. Hirad ließ ihn in Ruhe. Der große Krieger, der etwas stärker humpelte als sonst, lehnte den größten Teil des Tages an der hinteren Reling und blickte übers offene Wasser hinaus. Er hatte gesehen, wie der Ornouth-Archipel am Horizont versunken war. Es war ein schöner Anblick – die Sonne, die auf dem weißen Sand schimmerte, das türkisfarbene Flachwasser, das Flimmern der warmen Luft.
Hirad war allerdings klar, dass der Unbekannte all das nicht sah. Für ihn war nur wichtig, dass er seine Frau und sein Kind verlassen hatte und kaum hoffen konnte, sie jemals wiederzusehen.
Jetzt dämmerte der zweite Tag ihrer Rückreise nach Balaia. Hirad stand auf dem Ruderdeck und blickte auf den rasierten Schädel des Unbekannten hinab. Jevin wies gerade seinen neuen Rudergänger ein. Leise murmelnd erklärte der Elf dem Burschen die Feinheiten der Steuerung dieses schlanken Schiffs.
Jemand legte ihm eine Hand auf die Schulter. Es war Denser.
»He, großer Bursche. Zermarterst du dir wieder das Gehirn?«
Hirad drehte sich kurz um. »Sieh nur, was ich ihm angetan habe.«
»Er weiß, dass er am richtigen Ort ist«, sagte Denser. »Lass ihm nur etwas Zeit.«
»Ich habe ihn von seiner
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