Die Legenden des Raben 06 - Heldensturz
ihnen im Turmkomplex riefen Männer.
»Ihr müsst weglaufen«, rief Hirad.
Alle zuckten zusammen.
»Bei den Göttern«, sagte Denser. »Hat er etwa uns gemeint?«
»Nein«, erklärte Rebraal. »Er bemerkt uns überhaupt nicht.« Der Anführer der Al-Arynaar wirkte äußerst angespannt.
»Bitte, bringt euch in Sicherheit. Wir kommen«, sagte Hirad.
»Ich nehme an, das ist ungewöhnlich?«, fragte Denser.
»Unmöglich«, bekräftigte Rebraal. »So deutlich dürfte er Ilkar nicht verstehen können.«
Ein mächtiges Brüllen erhob sich. Die Wesmen hatten wieder ihren Kriegsgesang angestimmt, in der Kuppel rannten Xeteskianer hin und her. Die Türen wurden reihum geschlossen, das Knallen hallte durch den Turm.
»Ark, geh hinunter und sieh nach, was dort im Gange ist«, befahl der Unbekannte. »Hirad, ich glaube, es wird Zeit, dass du zu uns zurückkehrst.«
Der ehemalige Protektor entfernte sich, Auum und Evunn folgten ihm. Thraun schnüffelte. Der Unbekannte sah den Gestaltwandler, der die Augen zusammengekniffen und die Lippen zusammengepresst hatte, fragend an.
»Die Jagd hat begonnen«, sagte Thraun.
»Was meinst du damit?«
Von unten rief Ark etwas herauf. Dystran war schon unterwegs, gefolgt von Vuldaroq und den Leibwächtern.
Der Rabe blieb, wo er war, und wartete, dass Hirad wieder zu sich käme.
Endlich war es so weit, er riss die Augen auf, packte den Arm des Unbekannten und zog ihn an sich. Die Augen des Barbaren waren blutunterlaufen und blickten verzweifelt.
»Wir müssen hinüber«, sagte er. »Sie sind eingedrungen.«
Arnoan keuchte, brach seine Gebete abrupt ab und fiel flach auf den Rücken. Sein Brustkorb hob sich schwer, sein Puls raste. In seinem Kopf pochte und hämmerte es, stechende Schmerzen zuckten durch seine Stirn und die Schläfen. Weihrauchwolken waberten wie ein undurchdringlicher Nebel vor ihm.
Er blieb liegen, wo er war, bis er sich Gewissheit verschafft hatte, dass er sich doch nicht zu denen gesellen sollte, mit denen er gerade eben in Berührung gekommen war. Allmählich beruhigte sich sein Herzschlag wieder, der Weihrauch dämpfte die Erregung. Was blieb, war ein kleiner Schmerz wie von einer Zerrung. Auch sein Atem ging jetzt langsamer, und schließlich vermochte er sogar wieder etwas zu sehen und die geballten Fäuste zu öffnen. Gegen das Pochen im Kopf und den Schweiß, der aus allen Poren strömte, konnte er nicht viel tun.
Der alte Schamane kam mühsam hoch, bis er aufrecht saß und die Wand anstarren konnte, die seinem Schrein gegenüberlag. Besorgte Gesichter schauten zur Tür herein. Mit einer schwachen Geste verscheuchte er sie.
»Mir ist nichts passiert«, sagte er. »Schon gut. Später, bitte. Ich brauche etwas Zeit.«
Die Neugierigen zogen sich zurück. Arnoan legte seine fahrigen Hände auf die zitternden Beine, schloss die
Augen und kämpfte um seine Beherrschung. Was war während der Kommunion geschehen? In vieler Hinsicht hatte sie begonnen wie alle anderen. In seinem Bewusstsein hatte sich das Tor geöffnet. Das äußere Anzeichen waren die Weihrauchschwaden gewesen, die sich auf einmal verdichtet hatten. Er war durch das offene Portal getreten, das sein Körper nicht überwinden konnte, und niedergekniet. Er war mit seinem Geist gereist und hätte sich fast verirrt.
Zuerst die Berührung von etwas Neuem. Strahlend und lebendig und beinahe verlegen. Er hatte es jedoch ignoriert, weil er die Geister der Alten gesucht hatte. Die Kraft ihrer Emotionen hätten jeden unerfahrenen Schamanen überwältigt, und viele wären danach nicht zurückgekehrt. Laut und mit einer Stimme hatten sie gesprochen. All die Anzeichen der Furcht, die er schon so lange Zeit spürte, nur tausendfach verstärkt.
Schrecken. Hilflosigkeit. Verzweiflung. Flehen. Zeit, die knapp wurde, und Möglichkeiten, die schwanden.
Arnoan schlug die Augen auf und erhob sich. Taumelnd musste er sich an der Wand abstützen. Ihm war übel. Draußen setzten wieder die Geräusche der Schlacht ein, doch es war ein fremdartiger Lärm. Der alte Schamane, dem das Herz schmerzhaft in der Brust hämmerte, wartete ab, bis die Übelkeit abgeklungen war. Dann stieß er sich von der Wand ab und eilte zur Tür der Quartiere.
»Wo ist Tessaya?«
Der Krieger an der Tür sah ihn mit verängstigten Augen an. »Da draußen«, sagte er. »Er führt die Stämme an.«
»Begleite mich«, befahl Arnoan. »Ich muss mit ihm sprechen.«
Der Krieger holte tief Luft. »Ja, mein Schamane.«
Arnoan
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