Die Legenden von Attolia 1: Der Dieb (German Edition)
Das andere Ufer war nur ein paar hundert Schritt weit entfernt, und einmal kamen wir an einem winzigen, verlassenen Dorf vorbei. Hier wuchsen keine Bäume, und die Sonne wurde heißer. Zu unserer Linken ragten die Felsen immer höher auf und beschnitten unser Sichtfeld bei jeder Biegung des Pfads.
Als wir zu einer weiteren Steigung gelangten, half der Magus Sophos, auf einen Felsen zu klettern, um flussabwärts zu blicken.
»Siehst du irgendjemanden?«, fragten wir ihn beide.
Er sagte nein und begann hinabzuklettern.
»Warte«, sagte ich. »Siehst du Staub?«
»Meinst du in der Luft? Ja, da ist eine Staubwolke.«
»Das sind Pferde auf der Straße«, sagte ich an den Magus gewandt.
Er pflichtete mir bei und half Sophos herunter. Wir versuchten uns zu beeilen, aber obwohl ich keine starken Schmerzen hatte, fehlte mir die Kraft, schneller zu gehen. Als Sophos das nächste Mal Ausschau hielt, erhaschte er einen Blick auf die Reiter, die in einer Reihe zwischen die Felsen vorrückten. Wir wanderten weiter, bis ich mit dem Fuß an einem Stein hängen blieb und vornüber stolperte. Der Magus ging vor mir. Er hörte mich nach Luft schnappen und wandte sich um, um mir zu helfen, griff aber nach der falschen Schulter. Ich konnte nur gequält mit einer Hand abwinken. Mein Großvater wäre stolz darauf gewesen, wie gut er mich ausgebildet hatte: Ein Dieb bringt nie unabsichtlich einen Laut hervor. Ich biss mir auf die Lippen.
»Gen? Gen, fall nicht in Ohnmacht. Wir werden den Pfad verlassen und versuchen, uns irgendwo zwischen den Felsen zu verstecken. Vielleicht ziehen sie vorbei.«
»Nein«, sagte ich. Das war ein hoffnungsloser Plan, und wir wussten es beide. Wenn er und Sophos mich zurückließen, würden sie vielleicht entkommen, aber es gab eine bessere Alternative. Zwischen zwei Atemzügen sagte ich: »Es gibt eine Brücke.« Flussaufwärts teilten Felsinseln den Strom. Unrat war den Fluss hinabgeschwemmt worden, als er Hochwasser geführt hatte, und hatte sich zwischen den Felsen verkeilt. Ein Baumstamm führte von unserem Ufer bis zu einem Geröllhaufen mitten im Fluss.
Der Magus warf einen Blick über die Schulter und sah die behelfsmäßige Brücke. »Glaubst du, wir können hinübergelangen?«
»Ja.« Es gab auch noch eine Ansammlung von Ästen, die zum gegenüberliegenden Ufer führte. Sie war brüchiger, aber sie trug mein Gewicht und würde wahrscheinlich auch das des Magus aushalten.
Die Brücke – wenn man sie denn so nennen wollte – war noch mehrere hundert Schritt weit entfernt. Die Reiter waren nur doppelt so weit hinter uns. Es war ein Wettlauf zwischen der Schildkröte und dem Hasen, aber die Schildkröte hatte gerade genug Vorsprung und dazu noch den Magus, der sie mitschleifen konnte. Wir erreichten den behelfsmäßigen Übergang unmittelbar vor unseren Verfolgern. Sie hatten die Pferde zurückgelassen, die den vielen Tücken des Weges nicht gewachsen waren; die Männer kamen zu Fuß schneller voran.
»Sophos, du zuerst«, sagte der Magus. »Dann helfe ich Gen hinüber.«
»Nein«, sagte ich.
»Soll ich zu gehen versuchen?«, fragte Sophos.
»Nein!« Ich bestand darauf, dass er sich auf Hände und Knie niederließ und hinüberkroch. Ein Abrutschen, und er würde vom Fluss mitgerissen werden, so dass wir ihn wahrscheinlich nie wiedersehen würden. Ein Fluss fließt an seiner schmalsten Stelle am schnellsten, und das gesamte Wasser der Seperchia musste sich zwischen diesen Ufern hindurchzwängen. Sie wirkte trügerisch glatt, hatte aber die Kraft, einen Menschen binnen eines Herzschlags unter Wasser zu ziehen. Sophos kroch unbeschadet bis zu der Insel in der Mitte des Flusses.
»Wir gehen gemeinsam, Gen«, sagte der Magus.
»Nein.«
»Gen, ich lasse dich nicht noch einmal zurück.«
Er blickte über meine Schulter zu den Männern, die uns auf den Fersen waren, und versuchte, mich an meiner gesunden Hand mitzuziehen. Ich glaube, er war sich zu dem Zeitpunkt schon recht sicher, dass die Wachen ihn und Sophos entkommen lassen würden.
»Gen …«
»Ihr müsst Sophos sagen, dass er, wenn die Äste der zweiten Brücke unter ihm nachgeben, ans Ufer springen muss. Wenn er versucht, den Steg mit den Füßen im Wasser zu überqueren, wird er ertrinken.«
Der Magus sah nach Sophos, der ansetzte, die zweite, zerbrechlichere Brücke zu überqueren. Sie bestand aus dünnen Ästen, die vom Wasser gebündelt worden waren, und von Zweigen, die sich in Rissen im Felsen verfangen hatten, gehalten
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