Die Leibwächterin (German Edition)
doch in dieser Nacht kletterte ich auf den Boden und sicherte die Treppenstufen mit Metallschüsseln, deren Getöse mich wecken würde. Irgendwann fiel ich endlich in leichten Halbschlaf, der allmählich tiefer wurde.
Als ich erwachte, war es schon nach Mittag, doch durch das feuchte und dunstige Wetter herrschte weiterhin schlechte Sicht. Ich hatte Hunger, aber keine Lust, schon wieder Eier zu essen. Da mein Mund wie ausgetrocknet war, trank ich den Rest des Sprudels, aß dann eine Scheibe trockenes Brot und beschloss, zum Mittagessen mit dem Fahrrad am Ufer entlang zum Gasthaus in Kopparnäs zu fahren. Der Besitzer des Ufergrundstücks hatte sich nach Kräften bemüht, den Weg zu blockieren, aber wenn er nicht da war, nahmen alle die Abkürzung über sein Land, wie mein Nachbar mir erzählt hatte. Am Ufer blieb ich einen Moment stehen, um einen Kranichzug zu betrachten, der von Westen nach Osten flog. Von der großen Formation trennte sich eine kleinere Gruppe, die eine Zeitlang schnatternd für sich flog und sich dann wieder mit der Hauptgruppe vereinte, als ob die Kraniche ein Luftballett aufführten.
Im Speisesaal des Gasthauses herrschte echte Kaurismäki-Stimmung. Diesen grüngestrichenen, mit den unterschiedlichsten Gemälden geschmückten Raum mitten im Wald hätte ich gern Mike Virtue und einigen anderen Bekannten aus New York gezeigt. Ich bestellte gebratene Heringsfilets mit Kartoffelmus und ein Leichtbier. Als Beilage wurden in Essig eingelegte Rote Bete und Salzgurken serviert. Eine urfinnische Mahlzeit.
Die Radfahrt und das kräftige Essen hatten meine Lebensgeister geweckt. Mein Pilzmesser steckte in der Anoraktasche, und als ich am Wegrand einen orangen Plastikeimer fand, den irgendwer wohl dort entsorgt hatte, weil der Henkel abgegangen war, beschloss ich nachzusehen, ob Kopparnäs gute Pilze zu bieten hatte. Ich radelte in Richtung des ehemaligen Betriebszeltplatzes des Energiekonzerns Fortum, stieg aber etwa einen halben Kilometer vorher ab und ging in den Wald. Zum Glück hatte ich keine Turnschuhe, sondern feste Wanderschuhe angezogen, denn das nasse Moos schmatzte bei jedem Schritt, und die Felsen waren vom Regen noch rutschig.
Ich fand sowohl Trompetenpfifferlinge als auch haufenweise Reifpilze und kletterte voller Eifer über einen Felsen ans Ufer von Kvärnträsket. Dort standen weitere Reifpilze, die mit ihren strohgelben, von lilagrauem Reif bedeckten Hüten seltsam urtümlich wirkten. Wahrscheinlich hätte ich sie stehengelassen, wenn ich mich mit Pilzen nicht so gut ausgekannt hätte, denn auf den ersten Blick sahen sie wie Giftpilze aus.
Da es schwierig war, den Eimer ohne Henkel zu tragen, beschloss ich, aus Zweigen einen neuen zu flechten. Ich schnitt ein paar Weidenruten ab, setzte mich auf einen Baumstumpf und machte mich ans Werk. Glücklicherweise waren die Zweige weich und biegsam. Onkel Jari war in der Herstellung von Behelfsgeräten sehr geschickt gewesen. Auf einem unserer Ausflüge in den Wald hatte er mir gezeigt, wie man ein Trinkgefäß aus Birkenrinde macht, und das Wasser, das ich mit diesem Gefäß aus dem Bach geschöpft hatte, war das beste, was ich je getrunken hatte.
Plötzlich knackte es im Wald, und es klang nicht nach einem Tier. Kurz darauf erschien zwischen den Bäumen ein Mann im Tarnanzug. Er trug eine Schirmmütze und ein Fernglas um den Hals. Ich erkannte ihn an seinen Bewegungen und seiner Statur. David Stahl war mir immer noch auf den Fersen.
Meine Waffe steckte im Schulterhalfter, ich spürte ihr beruhigendes Gewicht unter meiner Achsel. Ich war keine Superschützin und hatte auch keine besondere Vorliebe für Waffen, doch sie gehörten nun einmal zu meinem Beruf, und regelmäßige Schießübungen waren eine Selbstverständlichkeit. Mike Virtue hatte uns eingeschärft, Schießen sei kein Selbstzweck, sondern das allerletzte Mittel zum Schutz und zur Selbstverteidigung.
Welche Einstellung Stahl hatte und wie schnell und geschickt er im Umgang mit Schusswaffen war, wusste ich nicht. Ich gab vor, in aller Ruhe an meinen Weidenzweigen zu schnitzen, immerhin hatte ich so das Pilzmesser griffbereit. Dabei beobachtete ich Stahl aus den Augenwinkeln. Selbst meine Körpergröße half mir in diesem Fall nicht, denn er war deutlich größer als ich. Als er offenbar absichtlich so fest auf einen Zweig trat, dass ich ihn hören musste, blickte ich auf, versuchte aber, den Anschein zu erwecken, dass ich ihn nicht erkannte. Er kam direkt auf mich zu, und es
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