Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Schweitzer erwartet hatte, beherrschte die Wirtin Sütterlin, als würde sie noch heute tagtäglich damit umgehen. Die mündliche Übertragung ging schneller, als er mitschreiben konnte. Mehrmals mußte er Bertha bremsen. Nach einer halben Stunde war es geschafft. Er hielt den vollständigen Text in Händen. Nein, er, Herr Schweitzer, würde niemanden enttäuschen. Schon gar nicht solch ein holdes Wesen wie diese Esther. Zum Dank drückte er der verdatterten Wirtin einen Kuß auf die Stirn. „Merci vielmals. Das war sehr nett von dir. Wir sehen uns später.“
Leicht wie eine Feder flog Herr Schweitzer nach Hause.
„Und, hast du’s?“
„Claro, hier.“ Er übergab Laura die Klarschrift.
Umgehend las sie vor:
„Geliebte Schwägerin, es ist eine Schande mit mir. Bitte verzeih, aber die allgemeinen Geschäftsinteressen ließen mir in der Zeit seit dem mit Freuden empfangenen Brief von dir zum Chanukka-Feste kaum einige Minuten übrig, dir gebührlich zu respondieren. Dein Ansinnen, unserem Vaterland den Rücken zu kehren, halte ich, bitte entschuldige diesen Ausdruck, für übereilt. Auch könnten wir nicht mit dir gehen, wer sollte dann das Möbelgeschäft, in das mein geliebter Vater all sein Herzblut steckte, der Ordnung nach weiterführen? Und meine liebe Frau Miriam, das spüre ich fast täglich in meinem Inneren, denkt derart auch, obschon sie es nicht offen zu mir sagt. Ein Mann, zumal einiges an Jahren älter als seine Gemahlin, spürt solches auch ohne große Worte. Auch hege ich große Hoffnung, ja beinahe schon Gewissheit, daß mit uns schon nicht so arg umgesprungen wird. Die lieben Nachbarn, ganz besonders Familie Härtling aus dem Parterre, bestärken uns und sagen, gleichwohl die Zeiten nicht zum Besten für unsereiner stehen, daß der Spuk nicht mehr bis in alle Ewigkeit anzuhalten vermag. Es betrübt mich, dir gerade in diesem Punkte contra geben zu müssen, aber es ist schon aus nämlichen Grunde undenkbar, da unserer kleinen Petra eine solche Reisestrapaze wie du sie anführst, nicht im mindesten zuzumuten ist. Und dann auch noch Amerika, wo wir beide kaum ein Wort dieser Sprache beherrschen. Es sträubt mich aufs höchste, unsere Zukunft, auch die deinige, falls du dich für den Schritt, den ich dir in meinem letzten Brief offerierte, nicht entscheiden magst, so gedankenlos zu riskieren. Du weißt, und ich weiß es noch viel deutlicher, die Korrespondenz von geschäftlichen Angelegenheiten und auch namentlich die Buchhaltung ist meiner lieben Frau ureigenster Vorzug nicht. Doch du, du hast seit jeher ein goldenes Händchen für derartige Obliegenheiten und könntest mir zur Hand gehen. Das Zimmer, in dem mein lieber Herr Vater seinen verdienten Frieden fand, steht bis auf ein paar verstaubende Akten noch immer frei. Nur ein paar spärliche Handgriffe, und du kannst sofort deinen Umzug in die Wege leiten. Wir würden uns sehr freuen, vornehmlich deine liebe Schwester vermißt dich an manch schweren Abenden arg
.
Doch nun muß ich zum Ende gelangen, eine Vorbereitung für einen Banktermin morgen duldet keinen weiteren Verzug. Im Falle, du setzt dein Vorhaben betreffs Amerika in die Tat um, werden dich unsere allerliebsten Wünsche begleiten, daß du diesem ungewissen Abenteuer gegenüber die Kraft aufbringen mögest, was ich auch nicht im mindesten bezweifele
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Kommst du uns noch, so wie du ankündigtest, in zwei Wochen besuchen? Mit Verehrung, Joshua Silbermann, Miriam und Petra.“
Für einige Sekunden breitete sich eine greifbare Stille aus. Herr Schweitzer merkte, daß es an Esther war, dieses Schweigen zu brechen, doch nämliche schien in Gedanken versunken der Welt auf meditative Weise entrückt zu sein.
„Schade, ich dachte, der Brief würde uns weiterhelfen“, seufzte Esther einige Zeit später schwer, und Herr Schweitzer hatte das Bedürfnis, sie von dieser wie auch immer gearteten Enttäuschung befreien zu müssen. Doch er wußte ja noch nicht einmal, um was es hier eigentlich ging. Ganz offensichtlich war der Brief im Dritten Reich geschrieben worden, von Juden, die der Barbarei der Hitlerzeit nach Amerika hatten entfliehen wollen, oder einer ungewissen Zukunft harrten. Trotz der vielen sich ihm aufdrängenden Fragen schwieg er.
„Vielleicht sollten wir das Foto vergrößern lassen, es ist doch sehr klein, man kann kaum etwas darauf erkennen“, schlug Laura vor, die dem Schuhkarton eine Schwarzweiß-Fotografie entnommen hatte, und sie nun eingehend mit einer anderen
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