Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
Esther nun endlich von einer großen Sorge befreit, begann sie zu erzählen. Daß ihre Großtante, die nach dem Tod ihrer, Esthers Eltern, bedingt durch einen Flugzeugabsturz, er könne sich bestimmt noch daran erinnern, 1985 war das, eine JAL-Maschine auf dem Flug nach Osaka, eigens ihr Leben in den Staaten aufgegeben habe – an sie war übrigens auch der Brief adressiert –, um sie, die damals noch sehr jung war, in Deutschland großzuziehen. Sie, Esther, ging ja noch zur Schule, und Rahel, so hieß ihre Großtante nämlich, habe entschieden, das Kind habe durch den Tod seiner Eltern schon genug durchlitten. Da sei ihr eine Übersiedlung nach Amerika nicht auch noch zuzumuten gewesen, obwohl sie, Esther, den Wunsch geäußert habe, zu den Großeltern zu gehen. Dort lebte Rahels Schwester mit ihrem Mann schon seit Anbeginn der Gründung Israels. Sie waren mit einem Schiff gelandet, das seinerzeit eine wahre Odyssee durchs Mittelmeer hat durchmachen müssen. Die politischen Verhältnisse von damals waren alles andere als geklärt. Sie sei dort einmal in den Sommerferien gewesen, da ging sie noch in die Volksschule. Ausgesprochen gut habe es ihr dort gefallen in Tel Aviv. Und die Großeltern hatten sich auch sehr gefreut und seien ihrer Enkelin, der einzigen übrigens, sehr zugetan gewesen. Aber ihre Großtante war strikt dagegen gewesen, habe sogar geschrien und getobt. Einen derartigen Wesenszug habe sie bei ihrer Tante, so nannte sie sie immer, obwohl sie eigentlich Großtante war, danach nie mehr erlebt. Immer sei sie sehr fürsorglich gewesen, wohl auch deshalb, weil sie keine eigenen Kinder hatte, dies sei immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen, wie sie ihr in einer schwachen Stunde gestanden habe. Doch sie, Esther, könne ihr wegen des Verbots, nach Israel zu gehen, keinen Vorwurf machen, habe sie doch extra ihr geliebtes Maine verlassen, um sich um die verwaiste Großnichte über dem großen Teich zu kümmern, und ihr eine vorzügliche Erziehung angedeihen lassen. In allen Sommerferien und vielen Winterferien sei man drüben gewesen. Es ist wirklich ein sehr hübsches Städtchen, dieses Ogunquit. Und sie, Esther, habe schon nach dem ersten Besuch den Vorschlag unterbreitet, dorthin zu ziehen, aber Rahel habe auf einen ordentlichen Schulabschluß bestanden. Und dann, als sich abzuzeichnen begann, daß ihre Enkelin ihr Studium der Geographie durch einen gut bezahlten Nebenjob selbst finanzieren konnte, habe sie wieder die Koffer gepackt. Und vor drei Monaten – Esther schluckte und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Kullertränchen aus den Augen, was seinerseits Herrn Schweitzer einen großen Verdruß bereitete – sei die Großtante dann gestorben, ganz friedlich in ihrem Hexenhäuschen, so haben sie es getauft. Und als ihre Freundin Laura sie dann in Berlin besuchte, erhielt sie einen Brief von einem Notar aus Amerika, da stand drin, sie habe nun das Hexenhäuschen geerbt. Und dieses Päckchen.
Sie deutete auf den Schuhkarton. „Den hatte sie in einem Schließfach deponiert.“
Herr Schweitzer war von der Geschichte noch ganz gefangen. Was das Leben doch manchmal so bereithält, dachte er. Und nach einer angemessenen Weile fragte er: „Und was haben die Männer auf den Fotos mit der Geschichte zu tun?“
„Genau das verstehe ich nicht. Der Mann in der Uniform, der links, ist meinem Opa wie aus dem Gesicht geschnitten, während der andere, der mit meiner Oma und dem kleinen Baby, meine Mutter übrigens, kaum oder gar keine Ähnlichkeit aufweist. Aber das kann nicht sein. Mein Opa ist kein Nazi, er ist Jude so wie ich. Wie die ganze Familie.“
„Verstehe“, erklärte Herr Schweitzer mit gerunzelter Stirn. „Ich meine, ich verstehe das Problem.“
„Was sollen wir denn jetzt machen?“
Esther hatte
wir
gesagt, konstatierte Herr Schweitzer. Und es gefiel ihm. Er war in die Angelegenheit involviert. Und was ihm noch viel wichtiger war, die Sache versprach Spannung. Von Zeit zu Zeit braucht der Mensch eben Abwechslung vom Alltag. Und sei es bloß wie bei ihm, um hernach umso intensiver sein geliebtes Leben wieder zu genießen. Für viele mag es langweilig klingen, doch alle Tage Alltag, die immergleichen Gesichter, lösten in ihm eine Befriedigung aus, der Außenstehende nichts abgewinnen konnten. Selbst Maria hatte ihn schon des öfteren versucht zu ermuntern, sie doch mal auf einer ihrer unzähligen Auslandsreisen zu begleiten, da lerne er auch mal andere Mentalitäten kennen und schätzen,
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