Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
das erweitere den eigenen Horizont ungemein. Doch einerseits fürchtete sich Herr Schweitzer vorm Fliegen, was er aber bislang niemandem, nicht mal Maria, eingestanden hatte, und andererseits konnten andere Länder und Städte nicht mit einem Sachsenhausen aufwarten. Allenfalls mit einem Abklatsch davon hätten sie mithalten können. Da war ihm das Original schon zehnmal lieber. Und er huldigte nun mal der Heimaterde, und damit basta.
Allerdings stand die Frage, was wir denn jetzt machen sollen, noch immer im Raum. „Entschuldige, Esther, aber wie alt bist du eigentlich?“
„Dreißig, warum?“
„Weil der Zweite Weltkrieg schon über sechzig Jahre her ist. Daraus ergibt sich, daß deine Mutter dich, und deine Oma deine Mutter im, sagen wir mal, sehr, sehr reifen Alter zur Welt gebracht haben.“
„Ach so. Nein, ich bin wirklich erst dreißig.“ Esther blickte zu Laura, damit diese es bestätigte.
Doch Herr Schweitzer befürchtete, mit dieser Frage nun für einen wunderlichen Kauz gehalten zu werden, und so sagte er schnell: „Also“, – ihre Aufmerksamkeit war ihm gewiß –, „diese Woche noch treffe ich mich mit meiner alten Klassenkameradin Andrea. Die arbeitet nämlich, müßt ihr wissen, bei der Stadt und kann uns mit Sicherheit weiterhelfen. Zumindest dürfte sie wissen, an wen wir uns mit unserem Problem zu wenden haben.“
So hielt es Herr Schweitzer immer. Wenn er selbst nicht weiterwußte, und das kam ständig bei ihm vor, so war es immer hilfreich, jemanden zu kennen, der einem in der ein oder anderen Angelegenheit beratend zur Seite stehen konnte, oder, was auch nicht selten vorkam, dieser Jemand kannte dann seinerseits wiederum einen, der zu beraten wußte. Manchmal ging es sogar noch um ein paar zusätzliche Ecken. Und eben deshalb zog es ihn, Herrn Schweitzer, immerfort zu den Orten, wo Menschen seit Gedenken miteinander redeten: Gasthöfe, Apfelweinlokale. Immer horche, immer gucke – das ist’s, worauf’s ankommt. Kommunikation halt. Eine Sachsenhäuser Spezialität, fast ebenso bedeutend wie der Handkäs.
„Und du, Laura …“, Herr Schweitzer war in seinem Element, „machst dich gleich morgen früh auf und läßt die beiden Fotos vergrößern. Das wäre doch gelacht, wenn …“
„Wie groß?“
„Ganz groß. Am besten Posterformat.“ Mit ausgestreckten Armen deutete er eine Plakatwand an. „Esther?“
„Ja?“
„Gott ist ein Sachsenhäuser.“
Esthers Lachmund brachte ihn fast um den Verstand.
Gepeinigt von Hunger und einer archaischen Sehnsucht nach rohem Fleisch fuhr Herr Schweitzer mit seinem neuen Vehikel zur Apfelweingaststätte Dautel am Lokalbahnhof, ein Rumpsteak verzehren, 350 Gramm und blutig, wie es sich für echte Männer gehört. Diese sportive Taktik anwendend, so glaubte er in seiner Einfalt, würde er prophylaktisch schon mal die Kalorien abbauen, die er sich dann mit dem Verzehr wieder in sich hineinschaufelte. Nach dieser bitter notwendigen Gemütserquickung radelte er sodann ins Weinfaß, wo er, erhitzt wie eine Jungfer nach der ersten Ballnacht, vom Sattel stieg.
Als einziger Gast war seine Freundin anwesend, vage hatte man sich verabredet. Aber von Bertha keine Spur. Stattdessen stand ein unscheinbares Mauerblümchen hinter dem Tresen, das er hier oder sonstwo noch nie gesehen hatte. Und überhaupt hatte im Weinfaß noch nie jemand anderes als die Chefin bedient.
Nicht mal die Zähne hatte sie zur Begrüßung auseinanderbekommen, lediglich stumm mit dem Kopf genickt.
„Ist Bertha krank?“ fragte er Maria, nachdem er sie geküßt hatte. „Vorhin war sie jedenfalls noch quietschfidel.“
„Nein, hast du’s schon wieder vergessen? In den letzten Wochen hat Bertha doch von nichts anderem gesprochen, als daß sie nun mal ein wenig kürzertreten wolle. Das Alter und so.“
Herrn Schweitzer fiel es wieder ein. „Ja, stimmt.“ Und diesmal erinnerte er sich in der Tat. War das vielleicht der Grund, warum es hier so leer war? Wenn die Gäste nur wegen Bertha herkamen, dann gute Nacht. Umsatz würde heute nicht viel gemacht werden. Er studierte die Wandtafel, auf der der Wein der Woche angepriesen wurde.
Blaufränkisch 2003 trocken
las er. Ein klangvoller Name, mußte er zugeben, den nehme ich.
Allerdings machte die Neue keinerlei Anstalten, ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Vielmehr wischte sie geistesabwesend Aschenbecher blank, obschon bisher niemand hier war, der rauchte. Irritiert schaute er zu Maria, doch diese gab ihm mit Gesten zu
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