Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
ist unser Archiv natürlich nicht, wird es auch nie sein, zu viel ist im Krieg und vor allem bei der Bombardierung Frankfurts verloren gegangen. Und die Nazis haben natürlich auch noch etliches davon verschwinden lassen.“
Und während der Computer hochfuhr, vermittelte der Leiter Herrn Schweitzer einen kleinen Überblick über die Schreckensjahre. So erfuhr er unter anderem, daß zu den Reichstagswahlen im März 1933 eine halbe Million Juden in Deutschland lebten, bei Kriegsende aber nur noch weniger als drei Prozent, meist in Mischehen oder aus selbigen stammend. Die, die konnten, seien nach der Pogromnacht im November 1938 emigriert. Die anderen, die es sich nicht leisten konnten, weil viel jüdische Geschäfte ja arisiert worden waren, und die Deutschen nur einen Spottpreis dafür zahlten, verarmten – Arbeit für Juden gab es so gut wie keine mehr – und ließen ihr Leben im KZ, das heißt, sie wurden dort mit barbarischsten Mitteln ermordet. Viele Juden aus dem Umland waren zu der Zeit nach Frankfurt geflüchtet, die Anonymität der Großstadt gewährte einen gewissen Schutz, aber das stellte sich später lediglich als ein Aufschub heraus. Das jüdische Netzwerk hier funktionierte noch eine Zeitlang besser als in den kleinen Gemeinden im Umland. Ab Oktober 1941 machten die Nazis dann auch in Frankfurt ernst, und die ersten Transporte rollten ins Ghetto nach Lodz. Von den ersten zwölfhundert Verhafteten haben nur zwei die Befreiung überlebt. Und dieser Heinrich Baab, Judenreferent der Stadt, war einer der ganz wenigen, die nach Kriegsende für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen wurden.
Beim letzten Satz war die Verbitterung Lamperts spürbar. Als Demokrat hegte Herr Schweitzer ähnliche Gefühle. Wäre es nach ihm gegangen, hätte man noch viel mehr dieser abscheulichen Gestalten – das Wort Mensch hielt er als Bezeichnung für zu human – aus dem Verkehr gezogen. Doch gerade die Amerikaner waren der Ansicht gewesen, ein Wiederaufbau Deutschlands sei ohne die alte Garde nicht zu schaffen. Was in seiner Konsequenz dazu führte, daß noch im Jahre 1979 mit Carl Carstens ein alter Recke der NSDAP und Hitlers SA Bundespräsident werden konnte. Und die Organisation Gehlen, Vorläufer des heutigen Bundesnachrichtendienstes, war nachgerade auf den Grundmauern der alten Seilschaften errichtet worden. Noch heute werden die Jahre 33-45 vielerorts aus dem Geschichtsunterricht ausgeklammert. Kein Wunder also, daß sich viele Menschen mit dem Demokratieverständnis schwer tun. Die auf vielen Wänden zu lesenden Türken-raus-Graffiti sind lediglich die Folgen dieser vom Staat und seinen Helfern gewollten Erziehungsmethoden. Zucht und Ordnung, das ist das, was sich noch viele der Ewiggestrigen für unsere Kinder wünschen. Und es werden wieder mehr. Herr Schweitzer wurde in seinen Gedanken unterbrochen. Es kostete ihn Mühe, seinen Ärger hinunterzuschlucken.
„So, hier haben wir ihn. Joshua Silbermann. Geboren am 17.6.1915. Ermordet wahrscheinlich in Chelmno, deportiert am 20. Oktober 1941 nach Litzmannstadt, so hieß Lodz nach der Okkupation. Oh, das war der allererste Transport von Frankfurt aus. In der Großmarkthalle hatte man damals ein Sammellager eingerichtet. Und wie ich bereits erwähnte, nur zwei davon haben überlebt. Das gilt als gesichert.“
Ermordet? Herr Schweitzer konnte es nicht fassen. „Lassen Sie mal sehen, bitte.“ Das muß ein Versehen sein, dachte er. „Bestimmt gibt’s noch einen anderen mit demselben Namen. Ich meine, Silbermann ist doch ein gebräuchlicher jüdischer Nachname, oder?“
„Nicht, daß ich wüßte. Aber warten Sie, ich klicke noch mal kurz zurück. Aha, da haben wir’s. Silbermann, Samson, Gemischtwarenhändler, wohnhaft in der Hans-Handwerk-Str. 12, 1937 mit seiner Frau Gabriele nach Holland emigriert, von dort aus nach England. Aber diese beiden waren über sechzig, als sie Frankfurt verließen.“
„Und was ist mit Joshuas Frau Miriam geschehen?“
„Vielleicht steht noch etwas in den Originalpapieren. Das glaube ich aber nicht, doch kommen Sie.“
Fünf Minuten später hielt Herr Schweitzer eine Kopie des Dokuments in der Hand. Es war jene Seite der Deportationsliste, auf der Joshua Silbermanns Name aufgeführt wurde. Später würde er sie in Ruhe durchgehen.
Herr Lampert: „Ja, vielen geht es so wie Ihnen. Oft hat man danach mehr Fragen als Antworten. Und viele sind erst dann richtig erschüttert, wenn sie’s Schwarz auf Weiß haben.“
„Ja.“ Als
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