Die Leiche am Eisernen Steg (German Edition)
sie sich verabschiedeten, mußte Herr Schweitzer noch eine Frage loswerden, die ihm keine Ruhe ließ: „Claude Heidenbrück, sagt Ihnen der Name etwas?“
„Wie sollte er nicht? War auch einer der vielen, die ungeschoren davonkamen, einer der Handlanger Baabs. Hat der später nicht in der Lebensmittelbranche ...?“
„Hat er. Und vielen Dank auch. War nett, Sie kennenzulernen.“
„Keine Ursache, Herr Schweitzer. Dafür bin ich da.“
Ihm schwirrte der Kopf. Ans Fahrradfahren war jetzt nicht zu denken. Zu gefährlich, gerade für einen wie ihm, dem die Übung fehlte. Sein Rad schiebend überquerte er den Untermainkai. Erst die fünfte Bank Richtung Herkuleskran fand er leer. Er setzte sich. Nachdem er ein paar Minuten einem mainabwärtsfahrenden Frachtschiff mit französischer Flagge nachgeschaut hatte, fühlte er sich nicht mehr überfordert und zog die Kopie aus seiner Hemdtasche. Tief atmete er ein und schmeckte den nahenden Herbst.
Silbermann, Joshua I., Biebergasse 2, 17.6.1915, Ffm. Das hielt er in den Händen. Und las es die nächste Viertelstunde immer und immer wieder. Unterzeichnet war die Liste von einem Dr. W. Metzger i.A. Wie passend, dieser Name, dachte Herr Schweitzer zynisch. Metzger waren sie wohl allesamt. Der Eid des Hippokrates ward zum Eid der Hypokriten. Dr. Josef Mengele, SS-Arzt in Auschwitz, um dessen Verschwinden nach dem Zusammenbruch des Tausendjährigen Reichs sich später noch viele abenteuerliche Geschichten rankten – nur einer unter vielen. Alles gebildete Leute, die genau wußten, was sie taten, denen beim besten Willen keine Ausflüchte hätten zugestanden werden dürfen. Und doch hatten sie sich genau damit aus der Verantwortung stehlen wollen. Mit Ausflüchten. Alle miteinander seien sie nur getäuschte Befehlsempfänger gewesen, denen es nicht vergönnt war, aus dem kleinen Ausschnitt ihrer Zuständigkeit auf das große Ganze der Tötungsmaschinerie zu schließen. Herrn Schweitzer überkam die nackte Wut.
Nichts paßte. Was er in den Händen hielt, konnte unmöglich eine Fälschung sein. Joshua Silbermann hat seine Deportation nicht überlebt. Wahrscheinlich hatten die Russen Chelmno erst erreicht, nachdem die Akten über die Ermordungen vernichtet worden waren. Er konnte es sich bildlich vorstellen: Am Horizont die feindliche Flak, während der Lagerkommandant die Aktenberge mit Benzin übergießen und anzünden ließ. Als seien damit die Verbrechen ein für allemal vom Erdboden verschluckt.
Herr Schweitzer befaßte sich lang und ausführlich mit allen Fakten, die er zusammengetragen hatte. Das Ergebnis war ernüchternd. Joshua Silbermann. Wer war oder wer ist er? Seine Gattin Miriam, von der in den Akten nichts stand, außer, daß sie mit Joshua verheiratet war. Und die laut Esther wohl irgendwann einmal eine Affäre hatte. Claude Heidenbrück – entnazifiziert. Bei dem schon Felix Melibocus das Handtuch geworfen hatte. Und wer weiß, wer noch alles. Hermann Bauer und Peter Söhnle, die Heidenbrück auf dem Foto flankierten und wie Freunde in die Kamera lächelten. Was kann man denn sechzig Jahre danach noch über diese beiden herausfinden, fragte sich Herr Schweitzer, und ließ sein Kinn auf die Brust sinken.
Er dachte an Esther, die nicht zu enttäuschen er sich vorgenommen hatte. Und die er, so wie die Dinge liefen, enttäuschen mußte. Zumindest an Heidenbrück hatten sich garantiert schon andere versucht und nichts erreicht. Der Mossad, der Spiegel, vielleicht die Washington Post und einige mehr, deren Informationsquellen um ein Vielfaches ergiebiger sprudelten als die seinen. Mit der Sachsenhäuser Devise
Immer horche, immer gucke
konnte man vielleicht auf lokaler Ebene mitmischen, aber einen Claude Heidenbrück brachte man damit nicht zur Strecke, nicht mal posthum. Der lacht sich wahrscheinlich noch im Grab ins Fäustchen, wenn er ihn hier jetzt sehen könnte, seufzte Herr Schweitzer traurig. Aber vielleicht wissen die vom Einwohnermeldeamt ja etwas über Hermann Bauer und Peter Söhnle, klammerte er sich an einen Strohhalm, von dem er wußte, daß er so gut wie nicht existent war. Hermann Bauers gab’s außerdem wie Sand am Meer. Die einzige Chance verbarg sich noch in den Liebesbriefen, oder welcher Natur die auch immer waren, die Esther in Ogunquit gefunden hatte. Herr Schweitzer hoffte, daß ihr Luftpostbrief mit einem Absender versehen war und noch Zeit genug blieb, zu antworten, sie, Esther, möge doch auf der Rückreise alles, was mit diesem Fall
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