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Die Leiche am Fluß

Die Leiche am Fluß

Titel: Die Leiche am Fluß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Gänsehaut, und er beeilte sich, wieder ins University Museum zurückzukommen.
    Auch hier, unter dem Glasdach des Atriums, war es jetzt stiller. Und dunkler — als habe sich draußen eine Wolke vor die Sonne geschoben. Was für ein Gefühl mochte es sein, hier allein zu bleiben, wenn die Schulkinder weggefahren, die Besucher, die Aufseher, die Kuratorin nach Hause gegangen waren? Wer konnte sagen, ob nicht dann in der gespenstischen Stille die Geister von Dronten und Dinosauriern, die von ihrem Aussterben nichts ahnten, an einer urzeitlichen Küste wieder nach ihren Gefährten riefen?

    Jane Cotterell blieb, nachdem sich die Tür hinter Morse geschlossen hatte, noch ein paar Minuten nachdenklich an ihrem Schreibtisch sitzen. Warum hatte sie bloß das mit dem Bier gesagt? Sie hätte nichts dagegen gehabt, sich zu einem Drink vor dem Lunch einladen zu lassen, und ertappte sich bei der Hoffnung, daß er womöglich etwas vergessen hatte. Seinen Taschenschirm vielleicht oder ein Notizbuch. Doch der Inspector hatte sich, wie sie sehr genau wußte, keine Notizen gemacht, und draußen schien inzwischen wieder die Sonne.
    Grausamkeit ist vielleicht die schlimmste Sünde.

24

    Intellektuelle Grausamkeit ist mit Sicherheit die schlimmste Grausamkeit.
    (G. K. Chesterton, All Things Considered)

    Julia Stevens war mit dem Brief zu Ende. Jetzt ordnete sie die Blätter und fing noch einmal von vorn an, während die Adressatin wie ein Häufchen Unglück neben ihr saß. Mit am tiefsten hatte Brenda Brooks getroffen, daß ihre Schwester Beryl ihrer Nichte erzählt hatte, was sich in jener schlimmen Nacht zugetragen hatte. Hatte sie, Brenda, vielleicht zuviel davon hergemacht, war es vielleicht doch nur ein dummer Zufall gewesen und keine Absicht? Nein, unmöglich... Die Erinnerung an jene Nacht im Mai hatte sich Brendas Erinnerung unauslöschlich eingeprägt.

    «Du warst aber lange weg, Ted. Wieviel Uhr haben wir denn?»
    «Zwölf.»
    «Zwölf? Nein, bestimmt ist es schon viel später.»
    «Warum fragste dann so dämlich, Himmeldonnerwetter?»
    «Du weißt doch, daß ich nicht einschlafen kann, wenn du nicht da bist. Ich hab mir Sorgen gemacht.»
    «Sorgen kannste dir machen, wenn ich mal um halb vier noch nicht da bin...»
    «Komm jetzt schlafen.»
    «Denk nicht dran.»
    «Dann geh ins Gästezimmer. Ich brauche meinen Schlaf.»
    «Ob Gästezimmer oder nicht — mit dir hab ich mir sowieso Gefrierfleisch ins Haus geholt.»
    «Das ist gemein, Ted!»
    «Wem der Schuh paßt, der zieht ihn sich an...»
    «So kann es nicht weitergehen, das ertrage ich einfach nicht.»
    «Hau doch ab, wenn’s dir nicht mehr paßt. Aber hör endlich auf mit dem Gemecker, das kann ich nicht haben.»
    Sie wickelte sich fester in den billigen Flauschmorgenrock und wollte an ihm vorbei zum Bett, aber da packte er sie bei der Schulter und gab ihr einen Stoß. «Du bleibst, wo du bist!»
    Bis zu dieser Nacht hatten seine gelegentlichen Grobheiten noch keine bösen Folgen gehabt. Jetzt aber schleuderte der Stoß sie bis an den Kamin, sie streckte die rechte Hand aus, um den Aufprall abzufangen, und dabei passierte irgend etwas, sie hörte ein ganz komisches Knacken... Sehr weh hatte es nicht getan. In dem Moment noch nicht.
    Sie war noch ein junges Mädchen, als ihre Mutter an einem Februarvormittag im Schnee ausgerutscht und hingefallen war und sich dabei das Handgelenk gebrochen hatte. Passanten hatten sich rührend um sie gekümmert. Als sie in der Notaufnahme des Radcliffe Hospital saßen, hatte sie zu Brenda gesagt, der Unfall habe sich fast gelohnt, weil sie nun wisse, daß es doch noch gute Menschen auf der Welt gab.
    Als Brenda selbst in jener Nacht hingefallen war, hatte Ted sie nur angefahren, sie solle aufstehen und sich nicht so anstellen. Da hatte sie angefangen zu weinen. Nicht vor Schmerz oder Schreck, sondern weil sie sich für den Mann, den sie geheiratet hatte, in Grund und Boden schämte.

    Julia gab den Brief zurück. «Ich glaube, Ihre Tochter haßt ihn noch mehr als Sie.»
    Brenda nickte und machte ein unglückliches Gesicht. «Irgendwann muß ich ihn wohl geliebt haben. Nach Sids Tod war ich sehr allein, da kam Ted und hat sich ein bißchen um mich gekümmert, und danach... aber das ist ja jetzt unwichtig.»
    Eine Weile saßen die beiden Frauen schweigend zusammen.
    «Mrs. Stevens?»
    «Ja?»
    «Was soll ich in... in der anderen Sache machen? Bitte, helfen Sie mir.»
    In Julia regte sich kalter Zorn. Daß der Mann brutal und gemein war,

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