Die Leiden eines Chinesen in China
lernen, so sahen sie sich jetzt gründlich getäuscht. Selbst nur flüchtige Notizen zu Papier zu bringen, fehlte es ihnen an Zeit, jene hätten sich denn einzig auf die Namen der Städte und Flecken und auf das Datum ihres Aufenthaltes daselbst beziehen müssen. Im Gegentheil sprachen sie fast niemals. Wozu auch? Was Craig dachte, dachte Fry ja ebenfalls. Ein Gespräch wäre zum bloßen Monolog geworden. Ebensowenig wie ihrem Clienten fiel ihnen deshalb die Doppelphysiognomie der meisten chinesischen Städte auf, welche im Inneren todt, in den Vorstädten dagegen höchst lebendig sind. In Ran-Keu bemerkten sie nicht einmal das europäische Quartier mit den breiten, rechtwinkelig verlaufenden Straßen, den eleganteren Wohnungen und der von großen Bäumen beschatteten Promenade, die sich am Ufer des Blauen Flusses hinzieht. Sie hatten ja nur Augen für Einen Mann, und dieser Eine blieb unsichtbar.
Der Dampfer konnte in Folge der Hochfluth im Ran-Kiang diesen Nebenfluß noch dreißig Meilen weiter, bis Lao-Ro-Keu, hinauffahren.
Kin-Fo fiel es zunächst gar nicht ein, dieses Beförderungsmittel aufzugeben, das ihm vorzüglich zusagte. Er gedachte sich desselben vielmehr bis zu der Stelle zu bedienen, wo der Ran-Kiang aufhören würde, schiffbar zu sein. Das Weitere würde sich dann finden. Auch Craig und Fry hatten keinen anderen Wunsch, als daß die Reise zu Wasser die ganze Zeit über andauern möchte. An Bord gestaltete sich die Ueberwachung leichter und drohten offenbar weniger Gefahren. Später, auf den unsicheren Straßen des inneren China, mußte sich das ändern.
Auch Soun behagte dieses Leben auf dem Dampfboote. Er strengte sich nicht durch Gehen an, that nichts, überließ seinen Herrn der Sorge Craig’s und Fry’s, und hatte keine andere Sorge, als in seinem Winkel ruhig auszuschlafen, wenn er gefrühstückt oder zu Mittag und zu Abend aus der vortrefflichen Schiffsküche gegessen hatte.
Einige Tage später trat auch ein Wechsel in der Art der Beköstigung ein, der jedem Anderen als diesem Dummkopfe gesagt hätte, daß die Reisenden allgemach in andere geographische Breiten gelangten.
Bei den Mahlzeiten trat nämlich an Stelle des Reises das Korn in Form kleiner ungesäuerter Brote von recht angenehmem Geschmacke, wenn man sie frisch aus dem Ofen genießt.
Soun, als echter Chinese des Südens, vermißte sein nationales Reisgericht schmerzlich. Er benutzte so geschickt die kleinen Stäbchen, mit denen er die Reiskörner aus der Schüssel in seinen breiten Mund beförderte. Und welche Massen vertilgte er davon! Reis und Thee, was braucht ein echter Sohn des Himmels mehr?
Das Schiff gelangte also, während es den Ran-Kiang stromaufwärts dampfte, allgemach in die Region des Getreides. Der Erdboden veränderte ebenfalls seine Gestalt. Am Horizont erhoben sich einzelne Berge, bekrönt mit, Festungsanlagen von der alten Dynastie der Ming her. An Stelle der künstlichen Uferdämme, welche das Wasser des Flusses zusammendrängten, traten niedrige Ufer, zwischen denen dessen Bett sich auf Kosten der Tiefe ansehnlich verbreiterte. Das Land gehörte hier zu dem Districte Guan-Lo-Fu.
Es war hier die Gegend des »Löß«. (S. 106.)
In der Hauptstadt desselben ging Kin-Fo nicht einmal während der wenigen Stunden an’s Land, welche die Einnahme frischer Lebensmittel und die Förmlichkeiten auf den Zollschiffen beanspruchten. Was sollte er auch in dem Orte, der ihm keinerlei Interesse bot? Wo er keine Spur von dem Philosophen entdeckte, bewegte ihn nur der eine Wunsch, immer tiefer in das Innere Chinas einzudringen; denn wenn er Wang dabei auch nicht finden sollte, so fand doch Wang ebenso bestimmt auch ihn nicht.
Er eilte längs des Gelben Flusses dahin. (S. 110.)
Nach Guan-Lo-Fu tauchten zwei einander gegenüber erbaute Städte auf, die Handelsstadt Fan-Tcheng am linken und die Districtsstadt Siang-Yang-Fo am rechten Ufer des Flusses; die erste belebt von einer geschäftigen Volksmenge, die andere zwar der Sitz der Behörden, sonst aber mehr todt als lebend.
Hinter Fan-Tchend bog der Ran-Kiang in scharfem Winkel direct nach Norden ab und blieb noch bis Lao-Ro-Keu schiffbar. Weiter konnte der Dampfer aber aus Mangel an Wasser nicht vordringen.
Nun gestalteten sich die Verhältnisse anders. Von dieser letzten Station aus ging die Reise unter veränderten Bedingungen weiter. Jetzt mußte man die Wasserstraße, »die Wege, welche selbst gehen«, verlassen und sich auf eigenen Fäßen weiter
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