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Die Leiden eines Chinesen in China

Die Leiden eines Chinesen in China

Titel: Die Leiden eines Chinesen in China Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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liegen.
    Unter Erwägung aller Umstände glaubten Craig und Fry unter einer großen Menschenmenge am meisten gesichert zu sein. Der Tod ihres Clienten sollte ja der Verabredung nach als Selbstmord erscheinen. Der Brief, den man bei ihm finden würde, sollte darüber jeden Zweifel beseitigen. Wang konnte seinen Auftrag also gar nicht unter den Verhältnissen ausführen, wie sie eine belebte Straße oder der offene Platz einer Stadt boten. In Folge dessen hatten Kin-Fo’s Wächter einen plötzlichen Ueberfall hier nicht zu befürchten. Ihre einzige Aufgabe bestand vielmehr darin, zu erspähen, ob der alte schlaue Taï-Ping nicht vielleicht gar von Shang-Haï aus ihrer Fährte folgte. Sie strengten deshalb die Augen nicht wenig an, alle Vorüberkommenden zu fixiren.
    Plötzlich hörte man einen Namen aussprechen, bei dem sie die Ohren nicht wenig spitzten.
    »Kin-Fo! Kin-Fo!« riefen einige kleine Chinesen, die mitten unter einem Gedränge aufspringend in die Hände klatschten.
    War Kin-Fo erkannt worden und brachte sein Name nun die gewohnten Wirkungen hervor?
    Der Held wider Willen hemmte seinen Schritt.
    Craig-Fry hielten sich in seiner Nähe, bereit, ihn im Nothfalle mit ihren Leibern zu decken.
    Kin-Fo’s Person galten jene Rufe aber nicht im mindesten. Kein Mensch hatte eine Ahnung von seiner Anwesenheit. Er blieb also stehen, begierig zu erfahren, was es mit der Nennung seines Namens für eine Bewandtniß habe.
    Eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern umringten einen umherziehenden Sänger, der bei dem Straßenpublikum in besonderer Gunst zu stehen schien. Man rief, klatschte in die Hände und applaudirte schon im voraus.
    Als der Sänger ein hinlänglich zahlreiches Auditorium versammelt sah, nahm er ein Packet bunt verzierter Zettel aus seinem Rocke und verkündete mit durchdringender Stimme:
    »Die fünf Wachen des Hundertjährigen!«
    Das war die berühmte, im ganzen Himmlischen Reiche verbreitete Posse, welche an jeder Straßenecke abgesungen wurde.
    Craig-Fry suchten ihren Clienten mit sich fortzuziehen; gerade jetzt aber bestand Kin-Fo darauf, dazubleiben. Ihn kannte ja Niemand. Er hatte das Scherzgedicht, das sein Thun und Treiben erzählte, noch nicht kennen gelernt, und war begierig, es einmal mit anzuhören.
    Der Sänger begann wie folgt:
    »Während der ersten Wache beleuchtet der Mond nur das spitzgiebelige Dach des Hauses in Shang-Haï. Kin-Fo ist noch jung. Er wird zwanzig Jahre alt und gleicht der Weide, deren erste Blätter ihre kleine grüne Spitze zeigen.
    »Während der zweiten Wache bescheint der Mond die Ostseite des reichen Yamen. Kin-Fo zählt vierzig Jahre. Seine zehntausend Geschäfte stehen in hoher Blüthe. Die Nachbarn singen sein Lob.«
    Die Physiognomie des Sängers änderte sich mit jeder Strophe und zeigte den Ausdruck des zunehmenden Alters. Rauschender Beifall.
    Er fuhr fort:
    »In der dritten Wache erhellt der Mond den ganzen Weltraum. Kin-Fo erreicht das sechzigste Jahr. Nach den grünen Blättern des Frühlings sprießen des Herbstes gelbe Chrisanthemen auf!
    »Mit der vierten Wache ist der Mond im Westen niedergegangen. Kin-Fo zählt achtzig Jahre. Sein Körper ist zusammengeschrumpft wie der einer Krabbe in siedendem Wasser. Er nimmt ab! Er nimmt ab, gleich dem Gestirne der Nacht!
    »Nach der fünften Wache endlich begrüßen die Hähne ein neues Morgenroth. Kin-Fo ist hundert Jahre alt. Er stirbt nach Erfüllung seines Herzenswunsches, doch höhnisch verweigert Fürst Jen seine Aufnahme unter die Seligen. Fürst Jen liebt die gar zu alten und meist geschwätzigen Leute nicht, und ohne Ruhe finden zu können, irrt der alte Kin-Fo in Ewigkeit umher!«
    Noch einmal donnerte der Beifallssturm der Zuhörer und der Sänger verkaufte das Spottgedicht, zu drei Sapeken das Stück, zu Hunderten von Exemplaren.
    Warum sollte sich Kin-Fo nicht auch selbst ein solches erwerben? Er holte etwas Geld aus der Tasche und streckte den Arm mit gefüllter Hand durch die ersten Reihen der Menschenmenge.
    Plötzlich öffnete sich unwillkürlich seine Hand. Die Geldstücke entfielen ihm und rollten auf die Erde…
    Ihm gegenüber stand ein Mann, dessen Blicke sich mit den seinen kreuzten.
    »Ach endlich!« rief Kin-Fo, ohne es zu wollen.
    Craig-Fry drängten sich zu ihm; sie glaubten ihn erkannt, bedroht, angefallen oder gar schon todt.
    »Wang! rief er laut.
    – Wang!« wiederholten Craig-Fry.
    Da stand wirklich Wang in eigener Person! Auch er bemerkte seinen früheren Schüler; doch

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