Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
«Jack kümmert sich um Mrs. Congreve, wenn Mr. Congreve zu betrunken ist. Die anderen Diener versorgen die Pferde und stellen die Kutsche unter.»
«Antoscha war beim Kutscher», erklärte Semjon mit leiser Stimme. «Lass uns also zuerst nach der Kutsche sehen. Die beiden sind schon eine ganze Weile hier, und Antoscha wurde vielleicht fortgeschafft.»
«Man kann Jack trauen», versicherte sie. «Oft reicht ein Wort an ihn.»
Er nickte. «Geh du vor.»
Diesmal nahm sie ihn bei der Hand. Angelica bemerkte, dass er immer wieder seinen Kopf hob, um zu lauschen, zu riechen und zu sehen – und das alles auf eine Weise, die mehr einem Wolf als einem Menschen ähnelte. Aber er sagte kein Wort. Die großen, bemalten Holztore waren natürlich verriegelt, sodass Semjon sofort begann, das frei stehende Gebäude zu umrunden. «Gibt es irgendwo ein Fenster?»
«Hinten, ja.»
Als sie die Rückseite des Gebäudes erreicht hatten, kniete Semjon sich hin, ließ sie auf seinen Rücken steigen und durch das Fenster klettern.
Im Inneren schlich sie auf Zehenspitzen an den Pferden in ihren Boxen vorbei. Die Tiere hoben die Köpfe und wieherten neugierig, aber sie lief sofort zu dem versperrten Tor, zog den Holzriegel heraus und ließ Semjon herein.
Die beiden Kutschen standen direkt nebeneinander. Sie waren nahezu identisch, aber Semjon konnte selbst im Dunkeln feststellen, welche davon den Congreves gehörte. Auf der Seite, wo Mrs. Congreve sich aus dem Fenster erleichtert hatte, waren nämlich immer noch breite Spuren ihres Mageninhalts zu sehen.
Die Frau tat Angelica allerdings nicht im Mindesten leid. Sie stellte sich auf das Trittbrett und öffnete die kleine Tür des Kutscherhäuschens. Doch es war nichts zu finden – keine Spur von der Tischdecke, in die sie Antoscha eingewickelt hatten, und auch kein Stückchen von dem Verband, den sie für seinen Arm zurechtgebastelt hatte. Plötzlich tauchte Semjon neben ihr auf und starrte ebenfalls angestrengt ins Innere.
«Spürst du irgendwas?»
Er warf ihr ein sehr schwaches Lächeln zu. «Nur, dass er noch am Leben war, als man ihn hier herausholte.»
«Woher weißt du das?»
«Ein toter Mann riecht völlig anders als ein lebendiger. Nein, Antoscha hat noch geatmet, sich vielleicht sogar gewehrt. Ich rieche einen Hauch von Schweiß in der Luft.»
Angelica kletterte wieder von der Kutsche. Das war ja immerhin ein gutes Zeichen.
«Und wohin jetzt?», fragte sie.
«Ins Haus.»
Sie verriegelte das Tor von innen. Diesmal kletterten beide aus dem Fenster, damit auch ja niemand mitbekam, dass sie hier eingedrungen waren.
«Die Hintertür», flüsterte sie. «Kittredge schleicht sich oft dort hinaus, um seinen Schatz zu besuchen, und verschließt sie dann nicht.»
Semjon nickte und überließ ihr die Führung. Sie stiegen eine Treppe hoch, die im Gegensatz zur prächtigen Außenfassade des Hauses einen recht schäbigen Eindruck machte.
«Was ist denn das für ein kleines Häuschen?», fragte er flüsternd und zeigte auf ein Gebäude, das ein paar Meter vom Haupthaus entfernt stand.
«Die Nacht-Toilette. Für die Dienstboten natürlich, nicht für die Congreves.»
Er sah sie an, als hätte er das eigentlich wissen müssen. «Das Rudel benutzt so etwas nicht. Zu ungeschützt. Wir fänden es einfach schrecklich, wenn man uns mit herabgelassenen Kniehosen und unseren nackten, pelzigen Hinterteilen erwischen würde.»
Der absurde Scherz heiterte sie ein wenig auf – besonders, da er glaubte, dass Antoscha noch am Leben war. Aber immerhin war auch ihnen die Flucht aus dieser Londoner Hölle gelungen.
Aber lachen konnte sie dennoch nicht. «Wenn wir nicht aufpassen, entdeckt man uns noch.»
«Was? Glaubst du etwa, die Congreves würden zu den Behörden rennen und sich beschweren, dass die Sexsklaven geflüchtet sind, die sie gekauft haben? Oder dass sie von Sin womöglich eine Entschädigung fordern?»
«Es gibt außer Wachtmeistern aber auch noch andere Leute, die man dafür bezahlen kann, Ausreißer zu finden.»
Er gab ihr einen spielerischen Stupser unters Kinn. «Wenn die beiden wieder nüchtern sind, werden sie das Ganze als betrunkene Eskapade betrachten und es vorziehen, nichts darüber verlauten zu lassen.»
«Mag sein.» Angelica fragte sich, ob nicht doch einer von ihnen erkannt worden war. Aber das spielte im Moment auch keine Rolle. Sie konzentrierte ihre Gedanken auf den Vermissten und ging vor ihrem geistigen Auge die Räume des Hauses durch.
«Wo
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