Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
erzählt, wenn sie vorgehabt hätte davonzulaufen.»
«Nun, anscheinend hätte jedermann verstanden, wenn sie es denn getan hätte. Hab ich recht?», fragte Semjon.
«Je höher man aufsteigt, desto schlimmer kann es in diesem unglückseligen Haus werden», erklärte der Diener nüchtern. «Ich hätte gedacht, dass sie als Mrs. Congreves Zofe vielleicht mehr als der Rest von uns wusste. Aber sie hat nie etwas gesagt. Hier gehen Dinge hinter verschlossenen Türen vor sich, die nur der Herr und die Herrin öffnen können.»
«Ich verstehe. Das verheißt nichts Gutes.»
Jack senkte den Kopf, als würde er ein kleines Gebet sprechen, und schaute dann wieder zu Semjon auf. «Sie hatten mir aufgetragen, mich um sie zu kümmern, Sir. Das habe ich versucht. Ich hätte es auch getan, wenn Sie mir nichts dafür gegeben hätten …»
Semjons Nackenhaare stellten sich auf. Wer auch für Ihr Verschwinden verantwortlich war, er selbst hatte sich definitiv mitschuldig gemacht. Auch er hatte sie schließlich schlafend und schutzlos zurückgelassen. «Großer Gott, wo kann sie denn nur hin sein, Mann? Was hat sie für Freunde? Wo ist ihre Familie?»
«Ich habe keine Ahnung. Keiner von uns wusste viel über sie. So ist das nun mal in London, Sir.»
«Ja. Ja, natürlich. Aber konzentrieren wir uns für den Moment nur auf diesen Abend. Was ist genau passiert, nachdem ich sie beide allein gelassen habe?»
«Sie wollte nicht aufwachen, und ich konnte nicht bei ihr bleiben, weil die Herrin laut nach mir rief. Sie müssen schon weg gewesen sein, sonst hätten Sie ihr Brüllen sicher auch gehört.»
«Höchstwahrscheinlich, ja.» Seine Gedanken rasten und zogen diverse Möglichkeiten in Erwägung. «Können Sie mich zu dem Raum bringen, wo die Mäntel aufbewahrt wurden, Jack? Würde das auffallen?»
Der Diener zögerte. «Wo ist denn die Herrin? Sie würde bestimmt drohen, mich auspeitschen zu lassen. Sie und Mr. Congreve haben wegen Angelica viel gestritten.»
«Die liegt nach diversen Gläsern Sherry schlafend auf einem Kissen in der Bibliothek. Und Mr. Congreve sitzt in einem Sessel schnarchend daneben.»
Jack nickte, als stimme diese Beschreibung mit dem überein, was er schon oftmals selbst gesehen hatte. «Dann kommen Sie mit.»
«Für den Anfang ist der Raum mit den Mänteln wohl am aussichtsreichsten», erklärte Semjon mit einer gewissen Dringlichkeit in der Stimme.
Nach ein paar Minuten, in denen sie mehrfach um diverse Ecken gebogen waren, stießen die beiden Männer schließlich auf den engen Flur, an dessen Ende der besagte Raum lag. Auf dem Weg dorthin sahen sie, wie Kittredge Mrs. Congreve die Treppe hinauftrug. Sie lag schwer und reglos in seinen Armen und tat so, als ob sie schlief.
Keinem von den Bediensteten schien aufzufallen, was da mit ihrer Herrin geschah, und die Tatsache, dass Jack einen Gast durch das Haus eskortierte, schien für sie auch nicht von Belang zu sein.
Die beiden Männer eilten den Flur hinunter. Semjon konnte schon von weitem sehen, dass die Vorhänge achtlos zu einer Seite geschoben worden waren, so als wäre jemand voller Eile aus dem Raum gestürmt.
Die Mäntel, die Pelze und die Mantuas waren alle verschwunden. Es sah fast so aus, als wäre der Raum geplündert worden. Doch der Unterschied zu den Folgen einer großen Party, wenn die müden oder betrunkenen Bediensteten in Kleiderhaufen herumwühlten, um Miladys Sachen hervorzuziehen, war nur schwer auszumachen. Die wenigen, vorhandenen Stühle lehnten gegen eine Wand, aber einer davon war offensichtlich umgestoßen worden. Die Schneiderbüste allerdings stand noch aufrecht da – eine stumme Zeugin dessen, was hier vor sich gegangen war.
«Ich habe sie auf dem Kleiderhaufen liegend zurückgelassen. Sie schlief immer noch», erklärte Jack. «Zurückgekommen bin ich dann erst viel später. Und zwar, um den Streit zwischen zwei Zofen zu schlichten. Die beiden waren wie zwei kratzende und beißende Hyänen, aber Angelica war nirgendwo mehr zu entdecken.»
«Haben Sie das Haus durchsucht?»
Jack schüttelte den Kopf. «Ich wurde anderenorts gebraucht im Haus.»
«In diesem Raum hängt ein schlechter Geruch», stellte Semjon fest. «Nach Fäulnis und Schlimmerem.»
Jack schnüffelte halbherzig in den Raum hinein. «Das kann ich nur bestätigen, Sir. Aber es wurde auch noch nicht gelüftet. Die Großen und Mächtigen stinken natürlich genau wie alle anderen auch. Ebenso ihre Kleidung. Und ganz besonders nach einer langen
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