Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
sehen, weil keine Vorhänge vor seinem Zimmer hängen.»
«Wie konnten Sie das denn bei Neumond erkennen?», fragte Angelica. Dabei wollte sie ihm glauben. Sie musste ihm glauben.
«Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich es erkennen konnte, aber ich habe es gesehen. Kommen Sie, Angelica. Wir könnten jeden Moment entdeckt werden.»
«Wieso sollte ich Ihnen trauen?» Die junge Frau zitterte am ganzen Leib.
«Sie müssen mir vertrauen. Sie sind nicht aus freien Stücken hier. Sie wurden entführt. Das weiß ich.»
Angelica schüttelte erneut ablehnend den Kopf. Sie war wie gelähmt vor Angst.
Doch als Semjon eine Hand ausstreckte, griff sie zu ihrer eigenen Überraschung dennoch nach seinen Fingern. Sie waren warm und strotzten vor einer undefinierbaren Kraft, die sich sofort auf ihren eigenen Körper übertrug. Und so kehrte ihr Mut Stück für Stück zurück.
Gerade genug, um einen Schritt auf ihn zuzugehen.
Semjon hob sie sofort hoch, trug sie die Treppe hinunter, durch die Eingangstür und in eine wartende Kutsche. Der mit zugezogenen Vorhängen versehene Wagen war schwarz, wirkte aber trotz jeder fehlenden Verzierung sehr kostspielig. Nachdem der Fahrer dem Pferd mit den Zügeln auf das Hinterteil geschlagen hatte, setzte sich die Kutsche in Bewegung. Semjon zog Angelica zu sich heran, wickelte sie in eine weiche Decke ein und legte den Arm um sie.
«Wer sind Sie?», fragte sie. «Wo fahren wir hin?»
«Sie kennen meinen Namen.»
Angelica legte den Kopf erschöpft gegen seine Brust, während er starr geradeaus durch das kleine Fenster starrte, von dem die Passagiere die Straße im Blick behalten konnten.
«In der Tat. Kann es sein, dass ich mit Ihnen vom Regen in die Traufe gekommen bin?»
«Wenn Sie mich fragen, ob ich ein Mann wie derjenige bin, der Sie bei Nacht entführt hat, dann lautet die Antwort nein.»
«Aber auch Ihrem Umgang mit Frauen eilt ein gewisser Ruf voraus.»
«Pah! Ich habe noch nie eine Frau zu etwas gezwungen. Und das würde ich auch niemals tun.»
Sie presste sich noch ein wenig fester an ihn. «Wie haben Sie mich denn gefunden? Und wieso wollten Sie mich überhaupt finden?»
«Instinkt.»
Angelica dachte kurz über die knappe Entgegnung nach. «Ist das die Antwort auf beide meiner Fragen?»
Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und strich mit einer Hand über ihr Haar. «Ja.»
«Werden Sie mich gehen lassen, wohin ich will?»
Semjon gab ein Brummen von sich. «Wenn Sie das wollen? Aber ich denke, zu Ihrer eigenen Sicherheit sollten Sie vorerst in meiner Obhut bleiben.»
Angelica erwiderte nichts auf seine Worte. Sie war viel zu verstört von den Geschehnissen und ganz schwach vor Hunger und Durst. Ihr Magen zog sich krampfartig zusammen, und sie musste würgen, als die Kutsche um eine Ecke bog.
Semjon kräuselte die Nase. Sogar Angelica selbst konnte die Galle in ihrem Mund riechen, und er öffnete eines der Seitenfenster. «Erbrechen Sie sich», wies er die junge Frau an. «Und vergessen Sie dabei, dass Sie eine Dame sind.»
Angelica gehorchte und sank danach zurück in die Kissen. Sie wischte sich den Mund im vollen Bewusstsein ab, dass sie sicher wie eine Vogelscheuche aussah.
«Wann haben Sie das letzte Mal etwas gegessen, Angelica?»
«Ich habe keine Ahnung», murmelte sie. «Ich weiß ja nicht einmal, wie lange ich in jenem Haus war. Ich erwachte in einem leeren Zimmer mit einer Eisenmanschette um die Knöchel, die an eine Wand gekettet war.»
Sein Kiefer verspannte sich, und in seinen Augen blitzte ein Ausdruck reinsten Zornes auf. «Dann verdient er den Tod.»
Angelica fuhr mit ihrem Bericht fort, fühlte sich dabei aber auf seltsame Weise emotionslos. «Nachdem ich ohnmächtig wurde, brachte man mich an einen anderen Ort. Mein neues Gefängnis war weitaus angenehmer. Fast wie die Unterkunft für die Geliebte eines reichen Mannes, wie ich fand.»
«Angelica …»
«Aber die Tür war versperrt, und ich war immer noch gefangen. Ich war allein. Victor schickte zwar ein Dienstmädchen mit einem Tablett voller Essen zu mir hinauf, aber ich wollte nichts anrühren.»
«Dann müssen sie mir versprechen, dass Sie etwas essen, wenn ich Sie sicher untergebracht habe», erklärte Semjon.
Sie nickte. Sonst tat sie nichts.
«Der Name Ihres Entführers ist also Victor. Kennen Sie auch seinen Nachnamen? Oder den Namen des anderen Mannes? Seines Kammerdieners?»
Von einem urplötzlichen Grauen erfasst und ganz überwältigt von der Scham über die heimtückische
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