Die Leidenschaft der Wölfe (German Edition)
Land nach London», sagte Angelica mit leiser Stimme. «Die Straßen, die in die Stadt führen, bieten ein gutes Jagdgelände.» Sie erinnerte sich sehr wohl an die groben Männer – und auch Frauen –, die versucht hatten, sie in Häuser von überaus schlechtem Ruf zu locken. Dank ihres Stiefbruders hatte sie allerdings gelernt, niemandem zu vertrauen. Und das allein hatte sie vor solch einem Schicksal bewahrt.
Semjon nickte. «Ja. Und viele von ihnen enden dann schnell als Straßenmädchen. Entweder das, oder sie verhungern. Arme Frauen haben keine große Wahl. Aber ich nehme an, für dich war das wohl anders?»
«Selten so eine unverblümte Fangfrage gehört», entfuhr es ihr bissig.
«Angelica …» Seine Stimme klang beruhigend, und es gelang ihm, ihre Hände für einen Moment in die seinen zu legen, bevor sie sie zurückzog.
«Was?»
«Ich habe dich hier untergebracht, ich habe dir neue Kleider gekauft, ich habe dafür gesorgt, dass du bewacht wirst – ich habe alles getan, was ich konnte.»
«Und dafür bin ich dir aus tiefstem Herzen dankbar», erwiderte sie ganz und gar aufrichtig.
«Aber du wusstest doch, dass wir früher oder später darüber sprechen müssen, was passierte, nachdem du aus dem Haus der Congreves entführt wurdest. Wo ich dich fand? Wer dich dorthin gebracht hatte?»
«Ich weiß auf keine der Fragen eine bessere Antwort als du.» Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie ihm erzählte, in welcher Beziehung Victor zu ihr stand. Für ihre und auch für Semjons Sicherheit musste ihr vager Plan, sich eine Schiffspassage in ein fremdes Land zu beschaffen, in die Tat umgesetzt werden. Und das besser früher als später.
«Aber …»
Sie würde ihn zunächst hinhalten und mit einer Frage ablenken müssen.
«Du hast mir nie erzählt, wie du mich gefunden hast, Semjon. Oder wieso du mich überhaupt finden wolltest.»
Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. Oder versuchte er vielleicht, sich eine Lüge zu überlegen? Sie wagte es nicht, die Frage laut auszusprechen, aber Angelica fand, dass die Vermutung nicht unbedingt allzu weit hergeholt war.
«Ich bin noch am selben Abend in das Haus der Congreves zurückgekehrt. Ich wollte dich unbedingt wiedersehen.»
«Gehört es zu deinen Gewohnheiten, mit Hausmädchen zu flirten?» Die Schärfe in ihrer Stimme schien ihm förmlich ins Herz zu stechen.
«Mir schien, als wärest du mehr als das. Ich war verzaubert von dir – so kurz unsere erste Begegnung auch war.»
«Ich nahm deinen Mantel an. Ich lächelte und nickte, und du gingst deiner Wege.»
«Ganz gleich. Als ich in den Ballsaal zurückkehrte, erkannte ich schnell, dass keine der anwesenden Frauen es mit deiner Schönheit und deinem Feuer aufnehmen konnte.»
«Pah!»
«Mir war klar, dass du voller Wohlwollen und in einer kultivierten Umgebung aufgezogen wurdest. Doch irgendwie und ohne eigene Schuld hast du einen Niedergang in dieser Welt erlebt. Da war eine Traurigkeit in deinen Augen …»
«Halt!» Angelica sprang gequält auf und eilte aus der Küche in das kleine Vorderzimmer, in dem das Sofa stand.
Semjon erhob sich ebenfalls und folgte ihr. Doch da er sich ihrer aufgewühlten Emotionen durchaus bewusst schien, hielt er sich zurück. Wie er da so mit einer Hand an den Türpfosten zwischen dem einen und dem anderen Raum gelehnt dastand, wurde Angelica erneut bewusst, dass dieses Haus einfach zu klein für ihn war. Und auch für die in goldenes Sonnenlicht getauchte Gemütlichkeit schien er irgendwie zu ungezügelt zu sein.
«Verzeih mir, wenn ich dir jetzt sage, dass diese Traurigkeit immer noch in deinen Augen geschrieben steht, mein Liebling.»
«Wieso sollte ich auch nicht traurig sein? Und starr vor Angst?»
«Natürlich …»
«Ich wünsche, nicht länger darüber zu sprechen. Und ich muss dich bitten, weitere Fragen zu unterlassen.»
Er schüttelte den Kopf. «Bitte hör mich doch an. Ich kann einfach nicht anders, als dich zu beobachten – auch wenn du entschlossen scheinst, nichts von dir preiszugeben. Aber du bist nicht das Kind von Dienstboten und auch nicht auf einem Bauernhof aufgewachsen. Das steht eindeutig fest.»
«Was ist schon dabei?»
«Es würde mir nichts ausmachen, wenn du in derlei Verhältnissen aufgewachsen wärst, Angelica. Ich sage doch nur, was ganz offensichtlich ist.»
Angelica seufzte tief und nahm auf dem Sofa Platz. Er blieb, wo er war.
«Ich werde dir erzählen, weshalb und
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